Dem Schleier so nah
#3
Es war ein sommerlicher Tag und die drückende Hitze lag wie eine alles erstickende Decke dicht über dem Morast. Das Summen der blutsaugenden Mücken war allgegenwärtig als sie, getrieben von einem nie enden wollenden Hunger auf der Suche nach einem Opfer dessen heißen Lebenssaft sie so sehr begehrten durch die Mangroven schwirrten, begleiten vom beständigen Quaken der ekelhaften Kröten, deren grotesk aufgeblähte Leiber im Schatten der Bäume ihrerseits auf Lauer lagen um jeden noch so unvorsichtigen Nager gierig zu verschlingen und ihn bei lebendigem Leib zu verdauen.

„Klock! Klock!“

Einzig und allein das dumpfe Hämmern von einer Axt, die so schwer in den schwieligen, zarten Händen eines kleinen Jungen lag durchbrach beständig wie ein Metronom die beinahe unwirkliche Stimmung und die vereinzelten Lichtstrahlen welche durch das dichte Blätterdach hinab auf die undurchsichtigen, schlammig grünen Wasserstellen brachen hüllten die Szenerie in ein sattes, schweres Orange und jetzt wo die spätsommerliche Abendsonne bald in einem glühenden roten Ball irgendwo am unsichtbaren Horizont untergehen würde schienen die Farben im Sumpf verrückt zu spielen. Erdige und bunte Töne lösten sich ein einem steten Wandel ab und die Wasseroberfläche schien im Kontrast zu dem immer dunkler werdenden Moorboden regelrecht in Flammen zu stehen.

Der Junge, kaum älter als dreizehn Jahre lehnte das schwere, klobige Holzfällerwerkzeug neben sich an den dicken Harz blutenden Stamm einer frisch geschlagenen Zypresse und tastete, sich den Schweiß von den Augenlidern wischend nach dem Trinkschlauch an seinem Gürtel. Da es ohnehin baldigst dunkel werden und er zurück zu dem Ort eilen würde der ihm als Zuhause diente, sich aber niemals so anfühlte, hatte es keinen Sinn mehr Wasser zu sparen wie unter Tags wo es absolut notwendig war, wenn man nicht früher oder später getrieben von Durst und Verzweiflung anfangen wollte das giftige Sumpfwasser zu trinken, was man, im Allgemeinen, nur ein einziges Mal tat.

Trotz der jungen Jahre schmerzte sein Rücken und beinahe jede Bewegung löste leichte Krämpfe aus, die entlang seiner Leisten aufwärts schossen und ihm die Luft zum Atmen raubten. Mit zusammengekniffenen Augen und unter Zuhilfenahme seiner Finger zählte das Kind sorgsam den Stapel an Holzstämmen der sich etwas weiter zu seiner Linken, wo der Boden stabil genug war um nicht plötzlich nachzugeben und den Lohn jeder Arbeit zu verschlingen auftürmte. Nicht dass es wirklich nötig gewesen wäre. Der Junge hatte jedes Mal wenn er einen weiteren Stamm zum Haufen hin geschliffen hatte einfach einen hinzugezählt, und so war es für ihn auch nicht wirklich verwunderlich dass er jetzt ein Dutzend und vier Stück zählte, wo es vorher noch ein Dutzend und drei gewesen waren.

Ein sanftes Lächeln der wissenden Vorfreude breitete sich sachte auf den schmalen Lippen des Jungen aus. Ein Dutzend und vier Stück. Genau so viele wie am Tag zuvor. Und genau so viele wie am Tag vor diesem Tag und an vielen Tagen davor. Er wusste genau warum es so viele sein mussten. Es war keine Zahl von symbolischer Bedeutung, aber es waren genug für einen harten Tag und mehr als dass es auf Faulheit schließen lassen würde. Weniger würden ihm Prügel einbringen, auch das wusste er, und mehr würden Agnes nur misstrauisch machen. Nun, nur noch misstrauischer. Und das letzte was er wollte war das Mutter Agnes ihn noch genauer im Blick behielt als es ohnehin schon der Fall war.

Das war aber nicht der Grund für sein Lächeln. Nein. Er hatte keinerlei Pausen gemacht, hatte gearbeitet bis die Schwielen an seinen Kinderhänden geplatzt waren und angefangen hatten zu bluten. Er hatte weitergearbeitet als sich Schwärme von Stechmücken, angezogen vom eisernen Geruch seines Lebenssaftes um ihn versammelt hatten und ihn traktierten als wollen sie ihn mit ihren winzigen Stacheln vollends leer saugen, hatte weiter gearbeitet obwohl der schneidende Hunger gellende Fanfaren des Schmerzes durch seine Eingeweide fahren ließ, hatte weitergearbeitet mit nur einem Ziel. Dieselbe Menge, weniger Zeit.

Und es war ihm gelungen. Er konnte nicht sagen wie viel genau er früher fertig geworden war, aber der Blick durch das Dach des Sumpfwaldes hinauf in den dämmrigen Himmel bestätigte ihm, dass er sich wohl einen guten Stundenlauf erkauft hatte, ehe sich die nächtliche Düsternis über die Marschen legen würde und für ihn den Augenblick einläutete an dem er in Agnes Haus sein müsste. Ein ganzer Stundenlauf, den er mit seinem einzigen Freund auf der ganzen Welt verbringen konnte. Seinem einzigen wahren Freund.

Geschickt trugen ihn seine kleinen Füßchen durch das dichte Unterholz und sein geschulter Blick ersparte ihm schlimmere Kratzer, denn er wusste nur zu gut, dass wohl mehr als die Hälfte der dornigen Ranken und des Gestrüpps entweder giftig waren oder aber schreckliche Infektionen auslösen könnten wie beim Samuel, einem der anderen Kinder in Agnes Haus. Er hatte sich nur einen kleinen Schnitt zugezogen, hatte deswegen nicht einmal geweint. Keine einzige Träne. Zwei Tage später war das Fieber gekommen und am selben Tag hatten die Gebete und Litaneien angefangen. Man hatte den Kratzer erst versucht mit Mithras heiligem Feuer auszubrennen und als das Feuer weiter stieg hatte sich Agnes von Samuel abgewandt. Wenn das läuternde Feuer des einzigen Gottes das Kind nicht retten könne, so wäre es wohl sein Wille, oder seine Strafe. Der Junge hatte an Samuels kleinem Bettchen gestanden als er am Abend desselben Tages gestorben war. Eine einzige Träne war über Samuels bleiches Gesicht gerollt. Seine Züge waren in jenem Moment voller Frieden gewesen, und auch wenn die anderen Kinder meinten es wäre das Fieber gewesen, welches ihm die Schmerzen nahm, so wusste der Junge es doch besser. Samuels Träne war eine Träne der Erleichterung gewesen. Er durfte jetzt gehen.

Der Junge hatte sein Ziel erreicht, eine kleine Lichtung, verborgen im Dickicht wo das Wasser des Sumpfes einen leichten Fluss aufwies, das grün satter war und die Mücken seltener. Sein Freund wartete schon auf ihn, wie er es immer tat. Er lächelte ihn an. Er lächelte immer. Die straff gespannte Haut hatte sich durch die Zeit hier in den Sümpfen zurückgezogen und dem Antlitz des Toten ein leichenhafte Grinsen verliehen als das Austrocknen der Sehnen die Mundwinkel in einer Grimasse nach oben zog. Seine Kleider waren von guter Verarbeitung, eine Kutte aus Leder, beinahe unberührt vom Verfall, die Haare sprossen lang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden aus dem geschrumpften Schädel der Leiche neben der sich der junge Gellert jetzt niederließ.

Er plauderte mit dem Toten, erzählte ihm von seinen Wünschen und Träumen und davon dass er jeden Abend noch vor dem Schlafengehen, wenn die anderen Kinder ihre Gebete an den einen Gott sprachen stumm eine Zeile des Buches rezitierte welches er am ersten Tag bei seinem Moorleichenfreund gefunden hatte. Er würde es auswendig lernen. Jede Silbe. Er sprach und sprach und sprach bis ihn ein kalter Schauer überkam. Es war Nacht geworden.

Gellert eilte nach Osten zu Mutter Agnes Haus so schnell ihn seine Beine trugen, immer wieder stolpernd, sich rasch aufraffend, weiterlaufend. Er war erschöpft und völlig außer Atem als er die Stufen des hölzernen Pfahlbaus hocheilte an dessen Seite in aufgemalten Lettern „Findelheim zu Lilienbruch“ zu lesen war. Er straffte sich und trat durch die Tür.

Mutter Agnes blickte vom Esstisch auf und acht weitere Augenpaare taten es ihr gleich. Gellert konnte aus den Gesichtern seiner Brüder und Schwestern Trauer ablesen, vereinzelt Sorge, aber auch Wut und Vorwurf. Agnes Antlitz war wie eine Maske aus Wachs. Unergründlich und frei von Emotion als sie langsam erhob und dabei raunzend den Stuhl nach hinten schob. Gellert stand da wie erstarrt, er wollte sich bewegen, wollte etwas sagen, wollte ich entschuldigen, sich zu Agnes Füßen werfen und sie in Mithras Namen um Vergebung anwinseln, doch jede Faser seines Körpers versagte ihm. Er sah wie sie zur Feuerstelle ging, sah wie sie zu einer kleinen Eisenschaufel griff und damit tief in die glühenden Kohlen stieß. Er sah wie die Funken aufstoben und das Metall seine Schwärze verloren hatte und jenem glühenden Orange der Sonne gewichen war als sie das Schäufelchen wieder herauszog und an ihn herantrat. Er fühlte ihren kalten Atem an seinem Nacken als sie sich zu ihm hinunterbeugte und ihm ins Ohr flüsterte.

„Mithras wird dich läutern, Sünder.“

Der süße Geruch von gebratenem Fleisch stieg in seine Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sein kindlicher Geist konnte nicht wirklich erfassen was hier geschah. Bis der Schmerz kam.

Er schrie, schrie, schrie und das widerhallende Geräusch seiner eigenen Schreie ließ ihn hochfahren. Als Gellert die Augen öffnete umfing ihn die kühle Dunkelheit der Krypta mit einer zärtlichen, gnädigen Umarmung, die Nachtluft streichelte seine entblößte Brust und schenkte ihm Frieden, ließ ihn wieder zu Atem kommen. Er hatte geträumt. Nein… es war kein Traum gewesen. Nicht wirklich. Er hatte sich nur erinnert. Erinnert an eine Zeit die so lange zurück lag dass es ihn eigentlich nicht mehr zu kümmern brauchte. Und doch hatte sie sich an seine Seele gekrallt, hielt ihn fest. Als man ihn mit fünf Lenzen gefunden und ins Waisenhaus gebracht hatte, hatte niemand den Namen seiner Familie gekannt und so war es Mutter Agnes zugekommen einen für ihn zu wählen.

Sie hatte ihn angeblickt, lange und tief. Er hatte zurückgeblickt, trotzig, erfüllt mit dem kindlichen Glauben dass einem nichts und niemand hier etwas Übles wollte. Sie war vor ihm in die Hocke gegangen, hatte ihn weiter abwägend betrachtet. Immer noch, auch so viele Jahre später hörte er den Nachhall ihrer Stimme.


„Na… sieht so aus als könnte ich deine Seele nicht biegen… dann wollen sie für dich brechen,… junger Seelenbruch.“
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Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 23.03.2017, 22:55
RE: Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 02.04.2017, 15:36



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