Dem Schleier so nah
#2
„Wärme ist Leben.“

Es waren die Worte des Meisters gewesen, so einfach, so klar und doch erfüllt von fundamentaler Wahrheit. Jede Faser seines Körpers und Geistes hatte sie ohne zu Zaudern akzeptiert als ob sie immer schon da gewesen wäre, tief in ihm schlummernd, nur darauf wartend erweckt zu werden. Erst hatte es ihn verwundert mit welcher Selbstverständlichkeit er die Lehren dieses Mannes akzeptiert konnte, doch ihm war schnell klar geworden, dass dessen Nähe irgendwo in den Untiefen seiner Seele eine Resonanz hervorrief wie er sie vorher noch nie bei den Lebenden gefühlt hatte. Gellert vormochte nicht festzumachen woran es liegen könne, aber die Aura des Magisters strahlte für ihn so gleißend Gelassenheit und eine eigene Art von Ruhe ab, das es wirkte ob er darin baden hätte können.
Sie nahm ihm seine ureigene Unsicherheit und ersetzte sie mit Neugier und Faszination. Und mit jedem gesprochenem Wort breitete sich vor ihm ein Bild von Wahrhaftigkeit aus, drängte die Nebel seiner Unzulässigkeiten immer weiter zurück und für einen kurzen Moment glaubte er sogar einen Hauch Erkenntnis gefunden zu haben.

„Kälte ist der Tod.“

Mit geschlossenen Augen saß Gellert im Schneidersitz auf dem steinernen Sarkophag den er als seinen liebsten auserkoren hatte und ließ Stück für Stück die Anspannung des Tages von sich abfallen. Als er zum ersten Mal Fuß in das steinerne Gewölbe gesetzt hatte war es draußen tiefster Winter gewesen und der beständig frisch fallende Schnee hatte seine verräterischen Fußspuren wie ein gnädiger Wink des Schicksals unter sich begraben. Damals war ihm aufgefallen, dass sich das Innere dieses Gemäuers zwar im klammen Griff bitterer Kälte befand aber es hier niemals wahrlich gefror. Ein Zustand der auch in den zunehmend wärmeren Tagen des beginnenden Frühjahres keine Veränderung gefunden hatte. Ein Zustand der sich für Gellert heute Nacht als ausgesprochen nützlich erweisen könnte.

Bedächtig, beinahe zärtlich umspielten die Finger seiner linken Hand das seltsam anmutende Konstrukt welches er so dermaßen fest in der Rechten hielt, dass seine Knöchel bereits seit geraumer Zeit weiß und taub waren. Es war einfach wunderschön. Die werte Dame die es ihm zum Geschenk gemacht hatte würde vermutlich niemals wirklich begreifen welch unbeschreiblich wundervolle Gefühle es in ihm auslöste. Er hatte Stunden damit verbracht es zu betrachten, zu streicheln, jede noch so feine Unebenheit zu erspüren, jede Kerbe, jede Stelle von auch noch so geringer Rauheit. Wo die kleineren, feinen Teile an den Rändern eindeutig aus den Knochen kleiner Nager und Vögel gefertigt waren erkannte Gellert im Mittelteil doch die eindeutigen Überreste eines menschlichen Sternums. Es war zwar kaum mehr als ein polierter Splitter, doch für ihn, der er den größten Teil seines Lebens die Gesellschaft jener die den Schleier vor langer Zeit durchquert hatten genossen hatte barg es viel mehr als schnöde Geheimnisse. Für ihn war es viel mehr, ein Rückzugosort wenn das Treiben der Lebenden über ihn hereinbrach, ein Ozean der Stille in einer hektischen Welt.

Vor einigen Stundengängen hatte er damit begonnen sich zu entkleiden, hatte sich seiner Stiefel und Gewänder entledigt, einzig und allein die dünne Bruoch war an seinem ausgemergelten Körper verblieben. Nicht dass sich die Toten daran gestört hätten, hätte er auch sie abgelegt, aber auch wenn sie niemals urteilten wollte Gellert ihnen jeden gebührenden Respekt erweisen und sie nicht mit seiner eigenen Nacktheit an das erinnern was sie nicht mehr waren oder jemals wieder sein konnten. Er hatte wissend darauf vertraut dass der Frost der Nacht die Krypta erfüllen würde wie er es immer tat, jeden Tag zu jeder Zeit. Und er war nicht enttäuscht worden. Wo er allerdings sonst seinen Mantel bemühte die Kälte zu vertreiben hatte er sich vorgenommen sich ihr dieses Mal voll und ganz hinzugeben.

Wo seine geschundenen Glieder zittern wollten verbot er es ihnen, wo jeder seiner Sinne nach der Wärme des Lebens zu schreien begann gebot er ihnen still zu sein und erlaubte der rohen, schonungslosen Kühle von ihm Besitz zu ergreifen, ihn ihr zum Sklaven zu machen. Anstatt sich zu wehren kehrte Gellert seine Wahrnehmung nach innen und lauschte jeder Veränderungen seines Köpers, genoss die stete Verlangsamung des Pochens in seinen Ohren, saugte jeden Schauer der seinen Rücken hinabjagte gierig auf und verschlang regelrecht das Gefühl wie die Wärme des Lebens auf verlorenem Posten stand und nach und nach dem unerbittlichen Vormarsch der Grabeskälte wich.
Wie in Trance ließ er sein Haupt in den Nacken fallen und sog stoßweiße, mit weit geöffnetem Mund ungeachtet der schneidenden Schmerzen jedes Atemzuges Luft in seine Lungen. Er konnte förmlich fühlen wie der Schleier näher rückte und mit brennendem Verlangen wollte er sich ihm nähern, ihn zerreißen , einen Blick in das was jenseits war erhaschen, doch irgendetwas hielt ihn zurück, erlaubte es ihm nicht, packte ihn an den schmalen Schultern und riss ihn mit dröhnender Gewalt zurück in die Welt der Lebenden. Als Gellert die Augen öffnete und seinen Blick in der in fahles Kerzenlicht gehüllten Gruft umherwandern ließ war er vollkommen allein. Niemand anderes als ein Teil seiner selbst hatte ihn aus seinem Zustand der Entrückung gerissen. Es war das Versprechen gewesen, welches er dem Meister gegeben hatte, dämmerte es ihm, das Versprechen auf sich Acht zu geben.

Mit klammen Fingern begann er damit sich erst seine Glieder warm zu reiben, wobei jegliche Bewegung Kaskaden schneidenden Schmerzes durch seinen Körper schickte ehe er sich wieder in die wohlige Umarmung seiner Kleidung flüchtete. Den Mantel als Decke nutzend und sich selbst in inniger Umarmung haltend schmiegte er sich an den Schädel des Unbekannten wie er es jeden Abend tat, und begann seinem Freund von allen Vorkommnissen des Tages zu erzählen.

Als er zu Ende gekommen war und seine Lippen ob der zurückgekehrten Wärme ihr Blau verloren hatten griff er nach seinem Lederbeutel und förderte daraus eine Hand voll Stachelbeeren sowie ein Stück hart gewordenes Brot zutage. Er hatte dem Meister ein Versprechen gegeben, ein Versprechen auf sich Acht zu geben, ein Versprechen mehr zu essen und auch seinen Körper wieder die Erholung zu geben um ihm Stärke zu verleihen wo derzeit nur Erschöpfung herrschte. Und er gedachte dieses Gelöbnis einzuhalten. Die Säure der teils unreifen Beeren brannte seinen Rachen hinab als er mehr Nahrung hinunterwürgte als er es für gewöhnlich in Tagen tat, aber er brauchte die Kraft, schließlich würde er morgen damit beginnen müssen irgendetwas zu schleppen oder sich anderweitig zu ertüchtigen. Wenn er den Magister das nächste Mal sah wollte er etwas vorzuweisen haben.

Kaum war der letzte Bissen verschlungen dauerte es nicht lange, da streckte der Schlaf bereits seine gierigen Klauen nach Gellert aus, grub sie tief in seinen Schädel und ließ allerlei Träume darin einsickern. Träume von Verzweiflung und Einsamkeit. Von dem kindlichen Wunsch zu sein wie alle anderen und dem zerreißenden Wissen dies niemals zustande bringen zu können. Träume von den Tagen die er in den Marschen verbracht hatte um für Mutter Agnes Zypressen zu schlagen, an seine stets schwieligen Hände und an den wundervollen Abend an dem er in dem mumifizierten Kadaver im Treibsumpf seinen ersten wahren Freund gefunden hatte. Träume von den vielen Nächten an denen er sich außer Haus geschlichen hatte um die Leiche zu besuchen und Träume von den glühenden Kohlen mit denen Mutter Agnes versucht hatte ihm die Sünde auszubrennen als sie seiner nächtlichen Streifzüge gewahr geworden war.


Während Gellert sich in unruhigem Schlaf hin und her wälzte lag in den leeren Augenhöhlen des Schädels kein Funkeln.

Keine Träne rann über seine Wangenknochen als Gellert im Schlaf schluchzte wie es so oft der Fall war.

Kein Wort kam über seine Lippen als Gellert in seinen Träumen schrie.

Der Schädel blieb stumm.

Und stumm, und ohne zu urteilen betrachtete er seinen schlafenden Freund.
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Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 23.03.2017, 22:55
RE: Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 28.03.2017, 01:04



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