Südwalds Wacht
#8
Die Jahre waren nicht gut zu dem kleinen aus Silber geformten Anhänger gewesen: Sie alle, so schien es, hatten ihre Spuren hinterlassen, Jahresringe, die sich in Form von Kratzern und kleinen Dellen ausgedrückt hatten, in einem Anlaufen des Metalls, die niemals mehr ganz beseitigt worden war. Andere Stellen glänzen übermässig hell, kennzeichneten, wo Bänder lagen oder Stoff Jahr auf Jahr über die Oberfläche gerieben hatte. 
An welche Art von Vogel der Erschaffer gedacht hatte, liess sich schwer sagen: Die ganze in Silber gefasste Gestalt erinnerte an eine bizarre Kreuzung aus einem Kormoran und einen Falken mit den schmalen, angewinkelten Flügeln des Letzteren in Verbindung mit dem gestreckten Hals und dem langen Schnabel des Fischjägers.

Einst hatte es einen winzigen Stein dort gegeben, wo das Auge des Vogels saß - heute fand sich dort nur eine dunkle Höhle angelaufenen Silbers. Was auch immer einst vorgesehen gewesen war, war schon so lange vergessen, wie der Erschaffer des Schmuckstücks.

Aber es besaß Kraft.

Durch irgendeinen Wink des Schicksals hatte die einfache, mitgenommene Form es fertiggebracht über sich hinaus zu wachsen, den Beobachter einzufangen: Es war etwas an diesem einfachen Schmuckstück, das sich dem Wirken des Verstandes entzog, denn dieser war nicht in der Lage einen rationalen Grund für besonderes Interesse zu finden - und doch war das gute Stück von Hand zu Hand gewandert, besser behütet als manch wertvollerer Schmuck, gerettet über die Zeit und das erbarmungslose Wirken des Schicksals.

Und auch bei dem Wachmann verfehlte es seinen Zauber nicht, zog ein Interesse an, das sich noch nie darum gekümmert hatte, was jemand besonderes an den Fingern oder um den Hals trug.

'Das ist das Richtige für Rahel..'



Ein einfaches Werkzeug erinnert sich beständig seiner Aufgabe. Ein kompliziertes Werkzeug muß beständig neu eingestellt werden.



An diesem Abend war die Last der Mauern unerträglich geworden: Die lichtlose Umarmung der dicken Wände war schon an guten Tagen nur schwer zu ertragen und heute war ihre alle Geräusche schluckende stumme Gegenwart mehr gewesen, als Gerwulf zu bewältigen in der Lage war. Der Abmarsch in die Stadt hinein war eine Flucht vor sich selbst, vor den zwischen die Schläfen gepressten Wünschen und dem bitteren Geschmack von Enttäuschung und Demütigung. 
Er hatte es nicht über sich gebracht die Uniform anzulegen, jene Uniform, von der er keinen Zweifel hatte, dass sie ihn zu einem besseren Menschen machte und das trug seinen Teil zum Unbehagen bei: Er war es nicht mehr gewohnt sich ohne Waffe und Wehr, ohne den lila Rock durch Löwenstein zu bewegen und das sonst so vertraute Pflaster fühlte sich fremd unter den Füßen an.

Die niemals ganz schlafende Stadt lag auch jetzt nicht verlassen da und unter anderen Umständen hätte ein einsamer Spaziergänger vielleicht schon allzu bald ein Rudel menschlicher Hyänen an den Fersen gehabt, aber entweder erkannten die interessierten Jäger das Gesicht des Mannes und entschieden, dass die Bequemlichkeit heute den möglichen Ärger überwog, oder sie zogen ähnliche Schlüsse aus der offenen Haltung. Hier gab es immer einfachere Opfer, dafür hatte der Krieg mit seiner Schwemme von Flüchtlingen gesorgt - ein Krieg, der auf gewisse Weise nun auch im inneren der Stadtmauern weiterlebte: Die Neuankömmlinge hatten etablierte Strukturen durchbrochen und ganze Geschäfte ruiniert, aus purer Not heraus wetteiferten die Ärmsten der Armen gegeneinander. 
Wer bereit war nur ein paar Schritt weiter zu gehen und den vermeintlich schützenden Kreis der roten Laternen zu verlassen, der konnte kostbares Silber sparen.

"Nur 2 Schilling."

"Wonach du auch suchst, hier hast du es gefunden."

"Hast du genug Mumm für mich?"

Die Angebote und Herausforderungen blieben zurück - sie waren so vertraut wie Wegweiser. Sein Ziel lag andernorts, in tieferen Schatten und näher an der Verzweiflung, wo die Scham kein Gesicht mehr kannte und niemand mehr nach links oder rechts schaute.

Als er schliesslich fand, was er suchte, war der Schmerz beinahe unerträglich geworden, ein beständiges Pulsieren im Herzen, das ihn zu Kurzatmigkeit zwang und das verstohlene Flüstern der Frau machte es nicht besser. 

'Sei still. Sei still.' "Sei still!"

Es war nicht genug die Hand über Mund und Nase zu legen, nicht genug die freie Hand um die Kehle zu pressen und zuzudrücken, denn noch immer wollte sie nicht still sein. Ihre Arme schnellten in die Höhe und griffen an sein Handgelenk - zu schwach um den Griff zu brechen und auch das Treten der Füße blieb vergeblich, wie eine enttäuschte, aber letztlich nutzlose Protestnote. Irgendwann ging die verbliebene Kraft aus und die Gegenwehr erlahmte, herabfallende Hände strecken die Finger, als das Bewusstsein schwand, nahm den entsetzten Funken aus den von Tränen verquollenen Augen.

"Warum .. konntest du nicht still sein?"

Für einen Moment regte sich die Scham, verband sich mit einem winzigen Funken von Entsetzen über das Geschehene und wurde in gleicher Weise davongefegt von grimmiger Entschlossenheit.
Er war noch nicht fertig. Das Versprochene war noch nicht eingelöst worden.

Die Finger fanden etwas unter dem reissenden Stoff: Ein Schmuckstück an einem langen, fadenscheinigen Lederband, die kleine Figur eines Vogels, die nach nichts aussah, auch wenn das Gewicht ihm verriet, dass dies Silber sein musste. Kein Juwelier der Stadt hätte mehr als einen Schilling dafür hergegeben, aber dennoch fühlte Gerwulf sich eigenartig berührt. 

'Das ist das Richtige für Rahel..'

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Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 24.02.2017, 13:58
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 25.02.2017, 14:39
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RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 22.06.2018, 13:25
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RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 24.06.2018, 22:39
RE: Südwalds Wacht - von Ygritte Ackermann - 25.06.2018, 17:51
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 27.06.2018, 19:29



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