FSK-18 Auf dünnem Eis
#7
16. Heuert 1402 (Sommer)

Der Tag der Ankunft hatte in ihren bisherigen Leben einen Tag der Faulheit nach sich gezogen, an dem man sich erst zu Mittag aus dem Bett rollen musste und die herrlichen Geschehnisse des Vortags im Geiste durchspielen konnte, ohne von einem äußeren Regelsystem dabei gestört zu werden. Traumverloren konnte man sich vorstellen, neben einem Bösewicht auf der Bühne gestanden und ihn als strahlender Held besiegt zu haben oder die Massen mit einer mitreißenden Predigt aufgeputscht zu haben, bis hunderte unter ihnen das „So sei es!“ brüllten als wäre es ein Schlachtruf gegen alles, was Mithras’ Wort behinderte.

Die Heilige Legion Silendirs allerdings, so informierte sie die Ordensmeisterin, als sie zur fünften Stunde in den Schlafsaal marschierte und die schweren Vorhänge erbarmungslos aufriss, kannte keinen Müßiggang. Pentos Ruthe hatte zwei Wochen Kerzendienst kassiert, als er auch beim zweiten Weckruf noch totengleich liegenblieb, während seine Kameraden schon längst hektisch Helme richteten und Schwertgurte anlegten. Er war nicht der Einzige, der das Feiern übertrieben hatte, aber mit Sicherheit der Entschlossenste. Sie schleppten ihn mit, als er endlich stand.

Marit beobachte die anderen, als sie gedankenversunken auf Pentos’ Rückkehr wartete. Dies war schon der zweite Ausflug an die Ränder des Turnierplatzes, bei denen Pentos seinen ohnedies schon leeren Magen verzweifelt noch leerer zu machen suchte. Sein Taumeln an den Rand blieb nicht unbemerkt und brachte ihm zwei zusätzliche Wochen an dem Dienst ein, den er verabscheute wie kaum etwas sonst. Kerzendienst erforderte eine gewisse Feinmotorik, die ihm gänzlich fehlte. Er brauchte doppelt so lange wie die anderen, bis er die schmalen Kerzen in ihre Halterungen gepresst hatte. Seine Schwester Philomena bewegte sich mit der Trägheit einer Nacktschnecke und suchte so, ihrer Übelkeit Herr zu werden. Defensiv wich sie vor Aurel Behringers mitleidig und gedämpft ausgeführten Angriffen zurück, bis sie auf den Boden plumpste und kokett lächelnd erklärte: „Verloren. Ach, dumm.“ Talpa Ulat feuerte Bolzen auf Zielscheiben und schien damit zufrieden, sich von den Nahkämpfern abgesondert zu haben.

Behringers Stimme klirrte kalt über den Platz. „Aufstehen! Ruthe gegen Ruthe. Ihr habt einander verdient – ein Trauerspiel sondergleichen ist das! Philomena Ruthe: Wäschedienst für zwei Wochen für ständiges feiges Ausweichen. Anwärter Behringer gegen Anwärterin Stein. Zeigt mir, dass die Zukunft der Legion nicht auf saufendem Volk basiert, das sich nicht zurückhalten kann!“

Die Ordensmeisterin kannte keine Gnade, darin war das Grüppchen der Anwärter sich einig, als es sich nach der zehnten Stunde in der Rüstkammer versammelte und seine Schweißbäche mit längst vollgesogenen Tüchern trockenzulegen versuchte. Von Marit erwartete niemand Konversation. Man hatte sich irgendwann zwangsläufig an ihre Schweigsamkeit, ihre Ignoranz gewohnt. Sie saß wie immer am äußersten Rand der türnächsten Bank und reinigte ihre Wehr. Nie blieb sie zu einem Plausch, den man leicht herausschinden konnte in dieser Kammer, in der man für eine Weile nicht unter Beobachtung stand.

Pentos fiel einfach grunzend auf die nächstbeste Bank, mit dem Gesicht nach unten. Zwei Lidschläge später ertönte durchdringendes Schnarchen. Seine Schwester brachte Talpa dazu, die Kammerdienerin zu mimen, ihr die Rüstung abzunehmen und zu polieren, während sie die Waschräume aufsuchte und es so schaffte, selbst verkatert und abgekämpft das meiste für sich herauszuholen. Eine Kaufmannstochter, fürwahr. Die sanfte Hohenmarschnerin aber hatte glühend rote Wangen vor Freude über die Beachtung und säuberte überglücklich und penibel Philomenas Lamellenrüstung.

„Talpa, lass dich doch nicht so von ihr einspannen. Der Herr hat ihr zwei gesunde Hände gegeben.“ Aurel hatte die Stirne gerunzelt. „Ach, es ist doch kein Aufwand. Ich tu es gern!“ „Sie nutzt dich aus, das weißt du? Während du ihren Dreck abwischst, geht sie sich im Zuber einweichen. Gerecht ist etwas anderes.“ „Wenn ich es doch gern tu, ist es kein Ausnutzen!“ Marit sah ihn den Mund unzufrieden verziehen, sein Blick pendelte durch den Raum auf der Suche nach Beistand, bis er bei ihr landete und er sie anschaute, als wolle er sie auffordern, ihm beizuspringen. Dann schüttelte er nur den blonden Schopf, von ihrem Anblick erinnert an ihre Stellung innerhalb des Grüppchens, angelte nach einem nassen Lappen und wischte seinen Helm mit methodischen Bewegungen aus. 

Marit räusperte sich und versuchte sich an einem friedlichen Lächeln. Es fühlte sich unnatürlich an, als hätten die Mundwinkel verlernt, ihre strenge Form zu verlassen, als zöge man eine Grimasse. Wann hatte sie das letzte Mal gelächelt? Langsam stand sie auf, trat an die glupschäugige Talpa heran und nahm ihr Philomenas Kragen aus der Hand. „Du musst das nicht tun.“ Talpa war nicht die Einzige, die verblüfft starrte. Marit spürte Aurels Blick bohrend in ihrem Rücken.

Ein Anfang.

15. Heuert 1402 (noch viel später, Sommer)

„Was weißt du über die Ordensmeisterin?“

„Sie ist mir eine strenge und gute Ausbildnerin, Euer Gnaden.“

„Keine andere Antwort erwarte ich von jemandem, der das Noviziat bald antreten soll. Ordnung durch Führung, Anwärterin.“

„Ordnung durch Führung.“

„Dies ist, so sehr es mich schmerzt, diese Worte vor unserem Herrn zu sprechen, jedoch nur die halbe Wahrheit. Wohl erfüllt die Ordensmeisterin ihre Pflichten auf zufriedenstellende Weise. Doch Gesine Behringer hat den Pfad des wahren Glaubens verlassen. Gleich einer Pflaume ist sie, einer Pflaume, die von außen unbeschädigt wirkt und inmitten ihrer Geschwister am Baume hängt. Hast du je eine Pflaume gegessen?“

„Sie wachsen nicht in Nortgard, Euer Gnaden.“

„Pflaumen sind tückische Früchte, Anwärterin. Man freut sich auf eine Schüssel kühler Pflaumen an einem Tag wie heute, man wählt eine Frucht, deren Haut so seidig weich wie ein samtenes Wams wirkt und öffnet sie erwartungsvoll. Doch in ihrem Inneren offenbart sich, was von außen nie ersichtlich gewesen wäre. Die schönsten Pflaumen sind durchsetzt von Wurmspuren und zu nichts außer Schweinefutter mehr zu gebrauchen.“

„Was hat die Ordensmeisterin getan, Euer Gnaden?“

„Sie zweifelt an unserer Führung.“

„Woher wisst Ihr das, Euer Gnaden?“

„Wer von uns beiden ist mit der Gabe des Herrn gesegnet, Marit?“

„Ihr seid es, Euer Gnaden.“

„So ist es. Die Gabe lässt mich tief in die Herzen der Menschen blicken. Doch glaube nie, das sei einzig und allein ein Segen. Ihre Herzen bergen Erinnerungen, die ich nie zu sehen wünschte, Erinnerungen so verdorben wie ein wurmzerfressenes Häufchen Pflaumen. So wie deine.“

Sie senkte den Blick, betroffen.

„Gesine Behringer will Seine Seligkeit Hermeno Falkner stürzen. Eine Tat so schändlich und nieder, dass selbst ein Wurm noch davor zurückschrecken würde. Doch er, unser geliebter Erzpriester würde das niemals glauben. Er hält große Stücke auf die Ordensmeisterin.“

„Warum sollte sie das wollen, Euer Gnaden?“

„Tut das etwas zur Sache? Fragst du den Hexer, warum er sich dem Dunkel zuwandte, wenn er auf den Scheiterhaufen tritt?“

„N-n.. nein, Euer Gnaden.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“

„So sei es. Es ist unsere heilige Pflicht, den Erzpriester vor den Plänen dieser vom wahren Glauben abgefallenen Frucht zu schützen, eh sie noch andere unter uns verseucht. Doch ein direktes Vorgehen, so sehr dies zu bevorzugen wäre, ist bereits einmal gescheitert. Seine Seligkeit vertraut der Ordensmeisterin blind – noch. Sie selbst ist zu vorsichtig, um einen Fehler zu begehen, doch dem Herrn sei Dank hat sie Schwachstellen.“

Er schwieg, die nebelgrauen Augen auf sie gerichtet.

„Euer Gnaden?“

„Sag du es mir. Wer ist Behringers Schwachstelle?“
 
 
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
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