FSK-18 Übergänge
#4
Geduldig lauschte sie dem Stallknecht und gab ihm das auch hin und wieder durch ein Nicken zu verstehen. Er hatte die Hufe der Drechslerstute kontrolliert und neu beschlagen lassen, das Zaumzeug für sie angepasst und weich gesattelt. Eigentlich hätte sie schon lange auf den braun schimmernden Pferderücken sitzen können, doch Richter, der Stallbursche, verteilte immer noch seine gut gemeinten Ratschläge. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. Das erste Mal ausreiten und das auch noch alleine. Vor einem Jahr wäre es nicht einmal ansatzweise denkbar gewesen, doch jetzt konnte sie das alles endlich nachholen. Magna, blinzelte ihr aus ihren freundlichen, braunen Augen zu und fraß in aller Seelenruhe das Heu aus ihrem Futtersack. Offenbar war ihre Ruhelosigkeit für keinen der Anwesenden ansteckend. Selbst die schillernde Fliege saß ruhig an der Wand und putzte die Flügel

Draußen erhob der kühle, herbstliche Küstenwind seine Stimme und heulte lautstark um die Ecken des robusten, grob gezimmerten Stalls. Sie fuhr aus den Gedanken und zuckte zurück, als Richter ihr demonstrativ und mit tadellosen, tadelndem Blick die Zügel vor die Nase hielt. Sie lächelte ihm verlegen zu und nahm die Lederriemen aus seiner Hand. Er nahm dem Pferd den Jutesack mit dem Heu ab und hielt ihr die Stalltüre auf. Langsam führte sie Magna durch die Pforte. Draußen blies ihr der Wind die bunten Herbstblätter ins Gesicht und sie verharrte noch einen Moment, genüsslich die frische Luft in sich aufnehmend, die nach dem Mief nach Heu und Pferdemist im Stall, mehr als nur begrüßenswert erschien.

Dann hob sie einen Fuß und schob ihn in den Steigbügel, griff mit der linken Hand an den Sattelknauf und zog sich hinauf. Es war gar nicht so schwer. Ruhig stand die braune Stute an Ort und Stelle und tänzelte nicht einmal, als sie noch ein wenig unbeholfen im zweiten Versuch, das andere Bein über den Pferderücken schwang. Beifallheischend sah sie zu Richter, doch der hatte sich wieder mit der Mistgabel bewaffnet und schichtete das Stroh um. Mit Sicherheit verdrehte er dabei sogar die Augen. vermutlich lernt man in Candaria das reiten schon im alter von 5 Jahren- Auf einem Zackelschaf!

Vorsichtig drückte sie Magna die Knie in die Seiten und versuchte sie mit einem Zug rechts oder links zu dirigieren, so wie sie der Stallknecht angewiesen hatte.
Mit einem Ruck setzte sie sich in Bewegung und verfiel alsbald in einen gleichmäßigen Schritt parallel zu den Klippen. Sie jauchzte. Endlich…sie hatte es geschafft! Stolz wie ein Freizeitjure drückte sie den Rücken durch und sah sich um. Leider war auch hier niemand zu sehen, der sie dafür bewundern konnte, außer eine Herde Zackelschafe, die in ihrer Koppel ziemlich unbeeindruckt auf dem restlichen, verbliebenen gelben Gras des Sommers herum kauten. Alles Banausen!

Sie zurrte das Band, dass den unverzichtbaren Hut auf ihrem Kopf hielt, unter dem Kinn fester und presste noch einmal die Knie in die Flanken des Pferdes. Wieder ein Ruck und Magna verfiel in einen Trab. Die nahezu blattlosen Sträucher und Bäume zogen an ihr vorbei. Zügig aber noch nicht schnell, was ihren Mut oder vielleicht auch Übermut anfeuerte. Das dumpfe Pochen der Hufe über den weichen Boden der Auen klang gleichmäßig und rhythmisch an ihr Ohr und ließ allerdings auch im Gleichklang ihr Hinterteil dabei in die Höhe hüpfen. Ohja…das würde heute Abend ordentliche Schmerzen geben. Sie zog erneut an den Zügeln und lenkte das Pferd auf den Weg zurück, nur um sie noch einmal mehr mit Schenkeldruck zum Galopp anzutreiben. Sie beugte sich weit über den Pferdehals und quietschte vor Freude... ungefähr so, wie diese kleinen Mädchen von 12 Jahren.

Wenn ihr Vater sie sehen würde, oder ihre Brüder. Sie würden kollektiv in Ohnmacht fallen. Haare und Wind peitschten ihr ins Gesicht, eventuell auch die letzten, kleinen Insekten dieses Jahres über die sie nicht so genau nachdenken wollte und sie spürte, wie sich die sonst so bleichen Wangen rosig färbten.

Ha! Von wegen krank und gebrechlich. Von wegen kleines Püppchen. Von wegen „Hüte lieber die Stube, sonst wirst du nur wieder krank!“ Der Rausch dieser Geschwindigkeit…naja ihrer Geschwindigkeit, denn vermutlich würde ein erfahrener Reiter sie mühelos überholen und dabei sogar noch ein Käsebrot essen…fühlte sich an wie fliegen. Das stille Jurenlager tauchte an ihrer rechten Seite auf und selbstverständlich sahen nicht einmal die Pferdeherren sie graziös, wie Hummel vorbeigaloppieren. Ihr Vater hatte Unrecht. Ihre Brüder hatten Unrecht. Denn hier saß sie nun, auf dem Rücken eines Pferdes, lebendig und ohne gebrochene Knochen und nicht einer einzigen lapidaren Schramme. Ständig diese albernen Sorgen. Selbst als sie damals aus Trotz weggelaufen war, haben sie sie gejagt und sofort wieder eingefangen, nur um sie wieder ins Bett zu stecken. Keine Freunde, nur Bücher. Keine Freiheit, nur Einsamkeit.

Ruckartig setzte sie sich auf, zog sachte an den Zügeln von Magna um sie wieder zum langsameren Trott zu bewegen.

Sorge, Jagd und Einsamkeit. Die Idee kam so schnell, wie auch der Rausch abflaute.

Sie wendete mit einem Zug die Drechslerstute und lenkte sie im Trab zu den Toren zum Südwald.

Sie musste die Idee mit den Anderen teilen. Es war nur eine kleine Idee: Hübsch, ein wenig bunt und nur wenig glitzernd, aber vielleicht war es der eine Weg, um den einen Bruder zu finden.

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Übergänge - von Valentina Dämmerstein - 13.09.2016, 18:11
RE: Übergänge - von Valentina Dämmerstein - 19.09.2016, 16:36
RE: Übergänge - von Valentina Dämmerstein - 24.10.2016, 10:17
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RE: Übergänge - von Valentina Dämmerstein - 05.12.2016, 17:55



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