FSK-18 Yngvar
#20
Manches mal fragte Yngvar Stein sich, warum es uns bisweilen gegeben war, dass wir in tiefster Nacht doch mehr Ruhe und Einkehr fanden, als es bei Tag, unter den wachenden Strahlen der Sonne und somit unter Mithras' steter Wacht. Außerhalb seines Zimmers existierte nur die Nacht und mit ihr die tiefe Dunkelheit, die täglich wie eine Sturmflut über die Welt hinwegstrich und am nächsten Morgen das Strandgut in Form von Trunkenbolden im Rinnstein, zerbrochenen Karaffen und Erbrochenem zurückließ. Die eine Kerze, die der Krieger in seiner Kammer entzündet hatte, beleuchtete den Raum nur spärlich. Das Bett lag im halbdunkel und zeichnete ledigich dessen Konturen in den schmalen Übergang von erkennbaren Umrissen und verschwommener Dunkelheit. Für den Novizen der Legion lag die einladende Wärme somit in weiter Ferne, in einer Welt, die man erst wieder bereisen durfte, wenn alles nötige getan war.

“Alles nötige” - das war in dieser Nacht die Aufarbeitung dessen, was er in Zweitürmen, bei Gnaden Teran gehört hatte. Er hatte zwar schon häufiger gesehen, dass es der Priesterschaft möglich war, Kerzen, Fackeln und sogar trockenes Holz nur durch ein Gebet an Mithras zu entfachen, jedoch hatte er nie die Unverfrorenheit besessen zu glauben, er würde einstmals selbst in die Lage versetzt werden, ein solches Wunder zu vollbringen. Es hatte ihn, von allem was ihre Gnaden vermittelt hatte, am wenigsten losgelassen. Das Feuer hatte stets eine zentrale Bedeutung für ihn gehabt – nicht nur weil es ein Symbol seines Glaubens war, sondern weil es schlicht und ergreifend für Vollkommenheit stand. Die Flammen versprachen Läuterung, spendeten Wärme in tiefster Kälte und waren stets das Licht, dass der Dunkelheit entgegenzutreten vermochte, egal wie stark sie war. Und nicht nur das: Im Feuer hatte er stets einen Spiegel seiner selbst gesehen, einen hungrigen Verheerer, der, entzündet und angestiftet durch seine Brüder und Schwestern nach Glauben und Ketzerei gleichermaßen leckte – einerseits um des Seelenheils aller willen, andererseits um diejenigen aus der Existenz zu schlagen, die das eben vorgenannte zu stören und zu beseitigen suchten.

Dabei kannten die Flammen keine Moral, keine Zuneigung, keine Missgunst, keinen Neid und keine Liebe. Sie waren eine neutrale Gewalt, die schlicht und ergreifend tat, wozu sie existierte.

Der Krieger indes, hatte sich in der Mitte des Raumes abgekniet und um sich herum einen Kreis aus Kerzen verschiedenster Sorten geformt – allesamt nicht enzündet und somit stumme und ausgebrannte Zeugen der Gedanken, die wie eine Fülle klarer Sturzbäche durch seinen Kopf flossen. Mit geschlossenen Augen kniete der Kriegerleib in der Mitte des Kreises aus deformierten, in wachs gekleideten Beistehern, ohne Bewegung und ohne ein Wort, während die schwere See, die seiner Gedankenwelt entsprach, in seinem Kopf aufzuwogen begann. Etwas fehlte. Er konnte noch nicht beginnen. Erneut öffneten sich die Augen, suchten mit wachem, klarem Blick den Raum ab. “Du hast etwas vergessen. Ich habe etwas vergessen.” hallte es immer wieder in seinem Kopf nach. Es folgten Weisungen, denen der Krieger sich selbst im Zwiegespräch seines Geistes unterstellte. “Streng' dich an!” “Erinnere dich!”

Der Blick blieb schlussendlich an der Klinge hängen, die entscheidet auf dem roten Umhang der Legion lag. Der blanke, gereinigte Stahl schimmerte verheißungsvoll und auf eine dinglich-betörende Art im wenigen Mondlicht, das sich mit der am Rande der Dunkelheit entzündeten Kerze auf dem Nachttisch mischte und in sanften Schattenfalten über das Mordwerkzeug strich. Die wenigen Schritte bis zum Ablageort der Klinge durchbrachen die Stille durch die nackten, auf den Holzbohlen auftretenden Füße, bis der Krieger die Klinge aufnahm und sie, als sei sie eine zerbrechliche Pflanze oder ein großes Heiligtum, vorsichtig in die Hand nahm. Seine Fingerspitzen glitten über die flache Seite des Breitschwertes und es kam dem Krieger für einen Augenblick so vor, als würden seine Finger nicht Stahl berühren, sondern den straffen Oberschenkel einer wunderschönen Frau, deren Wärme und Nähe den Männerleib nur nach mehr verlangen ließ.

Yngvar betrachtete seinen silhouettenhaften Schatten im Spiel der fernen Lichtquelle auf dem Metall. Die braunen Augen betrachteten die Waffe so, wie man eine Liebende betrachten würde, nach der man sich über Jahre hinweg verzehrt hat. “Hilfst du mir?” durchbrach die Stimme des Kriegers die Stille, die den Raum kurzfristig zurückerobert hatte. Es war jedoch nicht die kraftvolle, tiefe Männerstimme, die bei Tag den Willen des einzig wahren Gottes verkündete, sondern eine sanfte, eine seltene Stimmlage, derer sich der Kämpfer bediente. Es war die Offenbarung einer Schwäche, eine vollständige Entrüstung der mannhaften Wächterstatue, als die Yngvar Stein sonst stets auftrat. Wenngleich die Klinge ihm natürlich nicht antworten konnte, traten friedvolle, liebevolle Züge auf dem Gesicht des Mannes auf, der die Klinge langsam seinem Kopf zuneigte und seine Lippen zärtlich auf die flache Seite der Klinge drückte. Es war eine kurze, flüchtige Berührung von Stahl auf Haut, ehe der Kämpfer die Waffe wieder absenkte.

“Ich danke dir.”

Anschließend begab sich der Krieger mit der gleichen Schrittfolge, die ihn zum Ablageort des Schwertes geführt hatte, wieder in die Mitte des Raumes. Diesmal stellte der Kämpfer nur ein Knie auf, während das andere unter dem Körper angewinkelt wurde. Die Klinge führte Yngvar mit der Spitze zum Boden und legte beide Hände auf dem Knauf ab. Das Haupt gesenkt, begann der im Zentrum des Kerzenkreises knieende Kämpfer das Rauschen gedankenvoller Sturzbäche in seinem Kopf in das einstimmige, tiefe Raunen seiner Stimme zu übertragen, mit dem er sein folgendes Gebet anstimmen würde.

“Herr der Flammen, Herr des Feuers ...” begann der Novize seine Worte. “Du hast mich geformt, wo nur Sünde und Orientierungslosigkeit in mir waren. Du nahmst mich, voll deiner Liebe und formtest mich zu deinem willigen Werkzeug, zu deinem Arm auf dieser Welt. Und doch kann ich in dieser Nacht nicht mehr sein als ein Bittsteller, ein Flehling unter deiner glorreichen Herrschaft.” Der Krieger atmete erneut aus, spürte seinen eigenen Atem über den leichten Stoff rollen, der als einziges seinen Körper verhüllte.

“Die Einkehr, die du uns durch deine Diener zuteil werden lässt, stählt uns und stärkt uns – und so rufe ich Dich an, oh Herr, auf dass Du Licht in die Dunkelheit fahren lässt, die auf diese Kammer hereinzubrechen droht. Nimm mich hin, oh Befreier, und lass' mich dein Gefäß sein, auf dass die Nacht vertrieben wird, wo nur Licht sein sollte.”

Das Raunen des Kriegers ebbte darob ab und lediglich uralte Wörter von seit Jahrhunderten innerhalb der Kirche weitergegebenen Liturgien fanden den Weg in das sing-sanghafte Raunen des Kämpfers, ehe er seine Augen zu öffnen und das Haupt zu heben begann. In diesem Augenblick schien es dem Krieger als erlebe er diesen Augenblick gleich zwei mal, als stehe sein Verstand, der sich den Kerzenkreis hell und wohlig erleuchtet vorstellte, der Realität für einen entrückten Augenblick vor, ehe seine Augen wieder in die tatsächliche Welt erwachten und erkennen durften, dass Wunsch und Realität in diesem Moment eins geworden waren.

So verharrte der Krieger im erleuchteten Kerzenkreis, sitzend, die Klinge auf dem Schoß, mit geschlossenen Augen. Die Gebete, die er in der Folge raunte, waren jedoch keine Bitten mehr – sondern tief ergriffene Danksagungen an seinen Gott und Herrscher, Mithras.

Erst als die ersten Sonnenstrahlen wieder müde durch die Fenster der Kammer spähten und der Tag sich ankündigte, löschte der Krieger die Kerzen, setzte ein Schreiben auf, eine Pflicht, die er noch am Vorabend zugesagt hatte und begab sich dann erst ins Bett. Der flüchtige Gedanke an den Inhalt der Zeilen, ein Bericht über einen Räuber und Dieb, den er im Namen des Herrn auf offener Straße gerichtet hatte, kam ihm wie eine Fußnote seiner Gedankenwelt vor – eine Randnotiz, die im Gewirr des großen ganzen irgendwann verblassen und von den Flammen verschlungen werden würde, die in Yngvar Stein loderten – unverlöschbar und unerstickbar.

[Bild: kerze_flamme_haende_hoffnung_Fotolia.jpg]
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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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