FSK-18 Yngvar
#17
Die trügerische Ruhe eines Konfliktes, der viel zu lange schon unbeendet war, hatte begonnen, sich in den Alltag der Menschen Amhrans, insbesondere derer, die Löwenstein ihre Heimstatt nannten, einzuschleichen wie der Schatten, der sich geräuschlos zwischen das Licht des Tages schob und dort verharrte, mit den Bewegungen der Menschen und ihrer Umwelt verfloss, nur um dann zur Abenddämmerung in langgezogenen, verzerrten Formen die Nacht willkommen zu heißen.

Die Nacht, in diesem Fall die Kulmination der Konflikte mit den Vampirwesen, wurde indes von der heiligen Kirche des Mithras zugleich herbeigesehnt, wenngleich den meisten wohl klar sein würde, dass eine Überwindung dieser furchtbaren Ereignisse vor allem auch bedeuten musste, dass die Zeit danach sehr chaotisch werden konnte – eine Tatsache, die Yngvar strikt ablehnte. Der Nortgarder hatte die Eigenart, bisweilen auch unumstössliche Tatsachen abzulehnen, ihnen schlicht und ergreifend die Existenz abzusprechen, wenn sie seinem ordnungsliebenden Weltbild nicht entsprachen. Das führte beileibe nicht dazu, dass er deren Auswirkungen einfach ignorierte. Vielmehr tat er alles in seiner Macht stehende, um diesen chaotischen Urzustand, der sich der heiligen Ordnung des Herrn widersetzte, mit allen Mitteln zu beseitigen.

Umso erfrischender war es, dass seine Seligkeit Greiffenwaldt nebst Anwärter Winter die Legion zu einer Eskorte nach Zweitürmen zusammenrief. Die Novizen – das waren Pavel Kaltschlächter, Micael Varona, Leokadia Rauh und Yngvar Stein, drei altgediehnte Novizen, verbunden in Blut, Schweiß, Schmerz und Glauben, sowie eine neue, aufstrebende Streiterin, die sich mit großen Schritten ihren Platz in der Legion erkämpfte, hatten den Auftrag mit Freuden empfangen. So kam es, dass in der endlosen Weite Servanos, welches trotz seiner dichten Wälder durch die weiße Schneedecke schlicht und ergreifend noch weitläufiger wirkte, sechs rote Punkte sich ihren Weg über die leidlich sichtbaren Wege nach Zweitürmen bahnten. Gelegentliche Winterwinde zogen an den Roben des Klerus, während die Streiter, die sich in Vierpunktformation um die beiden Robenträger bewegten, mit jedem Schritt ihren warmen Atem in die Winterkälte des Herabziehenden Tages pressten. Beinahe hätte man den Eindruck gewinnen können, dass die vier stahlbewehrten Krieger nichts anderes waren, als von den beiden Robenträgern konstruierte Maschinen, willig ihrer Befehlsgewalt unterworfen und erbarmungslos ihren Weg fortsetzend.

Kein Wort wurde mehr als nötig gewechselt und das Hintergrundrauschen des Lehens, knarzende Äste und gelegentliches Flattern von im Winter verbliebenen Vögeln auf Nahrungssuche waren die stillen Begleiter des Trosses.

Die vier Novizen – sie harmonierten und Yngvar musste unwillkürlich an vergangene Zeiten denken. Zeiten alter Hochwürden, in denen er ein ähnliches Hochgefühl empfunden hatte, alleine schon wenn er mit seinen Waffenbrüdern (und Schwester) loszog, obschon sie alle vier so verschieden waren, sogar verschiedene Wege beschritten hatten. Es zeigte einmal mehr, dass Mithras zusammenfügt, was ihm seine Hand bereitwillig entgegenreckt und gutes Werk vollbringt.

Da war Pavel Kaltschlächter, der Mann aus Servano, der sein ganzes Leben schon im Schoße des Herrn verbracht hatte. Aufstrebend und pflichtbewusst konnte man seit jeher sicher sein, dass er mit den Lehren des einzig wahren Gottes vertraut war und nicht alleine auf seine Körperkraft setzte. Manches mal hatte sich Yngvar gefragt, warum Pavel nicht den Weg eines Priesters eingeschlagen hatte. Zweifelsohne hätte er auch das gekonnt. Und wie sich zeigte, war die Zeit ihm gnädig gewesen, denn er war zu einem ihm ebenbürtigen Kämpfer herangewachsen und konnte sich beim Kommando im Feld bewiesen. Pavel war eine stabile Größe der Legion, geordnet und sicher, wenngleich so gottergeben, dass man neidisch werden konnte. Mithras führt, Mithras ordnet.

Auf der anderen Seite war da Micael Varona. Jener, dessen Zeit im Noviziat die längste von allen war. Er war der Zurückhaltende im Tross, der vorsichtige, mildtätige und vor allem verständnisvolle Krieger. Es wäre gelogen zu sagen, dass nach Ansicht von Yngvar Stein nichts davon erstrebenswert war, wenngleich er seinen Bruder für die Art wie er war respektierte und ihn trotz anfänglicher Skepsis so sehr schätzte wie jeden anderen auch. Dennoch – Yngvar plagte der Umstand, dass Micael schon längst zu wahrer Größe hätte finden können, sich aber offenbar in der Rolle gefiel, die er in der Legion einnahm. Zweifelsohne musste es die geben, die geführt werden, doch der Nortgarder hätte es gerne gesehen, wenn Micael ein ähnlicher Aufstieg wie zu Eylis ihrer Zeit beschieden gewesen war. Trotz all' der Zurückhaltung und Mildtätigkeit – Yngvar liebte seinen Bruder. Denn auch Mithras vergibt, wo viele seiner Diener keine Milde walten lassen würden.

Die neue im Bund der vier, Leokadia Rauh, war die stille und strebsame Teilhaberin dieser Gruppe. Sie redete selten viel – doch wenn, dann sprach Vernunft und Glaube aus ihr, mit einer inneren Stärke, die man dieser Person aus den Sümpfen Hohenmarschens nicht unbedingt zugetraut hatte. Und sie verfügte über einige der beeindruckensten Fähigkeiten, die man im Dienste unter Mithras nur ausbilden konnte: Sie gab nicht auf, war unnachgiebig und zielstrebig. Drei Dinge, die sie zu einem stabilen Pfeiler dieser Vereinigung machten. Selbst nach mehreren Waffengängen, denen sich die Legion hingab, während seine Seligkeit in seiner Besprechung verweilte, stand sie immer und immer wieder auf, unablässig und unnachgiebig. Denn Mithras lässt uns niemals wanken und niemals zweifeln, denn er ist das Licht.

Und zum Schluss war da noch Yngvar Stein. Nortgarder, zur Kirche in Sünde gekommen und nach langer Pilgerschaft wieder fest in die Legion integriert. Er war ein in Stahl gehülltes Schlachtschiff, dass die Prüfungen des Herrn bislang auch in dunkelsten Gewässern mit dem Kompass seiner Herrlichkeit empfangen und bestanden hatte. Selbst nach langer Zeit erinnerten sich viele altgediente Löwensteiner an ihn – auch außerhalb der Legion. Seine Fertigkeiten hatten sich mit den heraufziehenden Monden stets erweitert, auch abseits des Schlachtfeldes, wo er insbesondere von ihrer einstigen Hochwürden Eylis erst lernte, wie wichtig die Diplomatie in gewissen Zeiten sein konnte – und wo Zurückhaltung sich zu einem Vorteil auswachsen konnte, wenn man dafür später und mit vollkommener Unbarmherzigkeit nach einem langen Weg des Ausholens zuschlug.

Das Viergestirn des Noviziats – sie waren an diesem Abend stärker zusammengewachsen als man es bei Beginn der Expedition hätte vermuten können. Und es war ein guter Tag, der von wenig anderem bestimmt war, wenngleich das positive Zusammentreffen mit der Vogtin den Erfolg dieses Tages unter Mithras' Sonne noch unterstrich.

Sein Ende schließlich, galt dann denen, die er ob der Wirren des Kampfes mit den Vampirwesen nur selten sah – Ehrwürden Schwarzstahl, den begnadeten Streiter in Mithras' Licht, Ehrwürden Alveranth, der lange mit seinen Verletzungen zu kämpfen hatte, Gnaden Veltenbruch, dessen Worte so scharf und todbringend sein konnten wie eine Klinge aus Stahl, Seligkeit Winkel, die bei ihrem ersten Zusammentreffen während der Kämpfe alleine aus Gründen des Benimms nicht von ihm umarmt wurde, obwohl seine Freude über das Wiedersehen dies gerechtfertigt hätte. Und schlussendlich war da noch die Novizin Askolt, eine Frau mit klarem Verstand, den sie zweifelsohne als Waffe einsetzen konnte, wenngleich ihre Begegnungen immer schon zu flüchtig gewesen waren, um tiefer in ihr Wesen sehen zu können.

Mit diesen Gedanken endete ein weiteres, der mittlerweile vielen Notizbücher des Novizen, in denen er stets und ohne einen Tag auszulassen, die Lehren des Tages aufgeschrieben hatte. Und als er über das abgegriffene Leder des Büchleins strich, links und rechts die neben ihm schlafenden Novizen betrachtete und schlussendlich zur Decke sah, umfing den Streiter das Gefühl, die unumstössliche Sicherheit, dass er genau dort war, wo Mithras ihn haben wollte – im Kreise seiner, mittlerweile sehr großen, Familie.

Mithras obsiegt.

[Bild: stapel-von-alten-notizbchern-des-student...288592.jpg]
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