FSK-18 Yngvar
#12
Anmaßung war für den Novizen noch vor einiger Zeit ein zentraler Begriff gewesen. Eine Spur sündhaften Tuns auf den Seelen derer, die sich der Größe Mithras' versagt und beschlossen hatten, ihr Glück im Schatten, mit Blick auf die alles verschlingende Dunkelheit, zu suchen, statt sich der Wärme und dem Licht zu zuzuwenden, dass Mithras ist. Für jene wäre es mehr noch eine Probe gewesen, der man sich stellen musste, statt sich einfach von der Barmherzigkeit vereinnahmen zu lassen, wie es der Novize einst getan hatte. Alles wofür Mithras steht und immer stehen wird, da war sich Yngvar Stein sicher, war alternativlos besser.

Erst zu spät hatte er bemerkt, dass sein rascher Aufstieg mitsamt der Disziplin und dem Feuer, welches noch immer in ihm brannte, nicht nur diejenigen ausbrennen konnte, die sich der Herrlichkeit des Einen verschlossen hatten. Oft hatte Mithras dem Novizen Momente dieser Eingebung bereits geschenkt und selten waren sie zum rechten Zeitpunkt in seinen Geist geschickt worden – nein, Mithras bedachte seine Diener stets dann mit solchen Eingebungen, wenn sich eine Zeit der Prüfung ohnehin schon eingestellt hatte und gemahnte seine Kinder dabei zu recht, in Augenblicken der Wachsamkeit einen Blick mehr zu tun. In Yngvars Fall war es einer dieser Abende des fliehenden Winters, die vordergründig wie jeder andere wirkten, die der Novize jedoch bereits früh als einen dieser "Schicksalsabende" erkannt hatte. Man konnte es förmlich riechen, sogar körperlich spüren, dass sich etwas anbahnte. Und obwohl der Abend ereignislos verstrich und Yngvar sich offenbar grundlos körperlich in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte, schoss schließlich, als er sich soeben zur Ruhe betten wollte, ein Satz durch seinen Kopf, der so bekannt wirkte, als hätte er ihn wie ein Mantra beinahe minütlich sein ganzes Leben lang wiederholt – obwohl nichts dergleichen zutraf:

"Wir neigen dazu, in den schwersten Stunden, die wir durchleben, nur das Wesentliche zu vollbringen und vor allem uns zum Gefallen zu sein – vergessen dabei aber oft jene, die uns viel größere Stütze sein könnten, als wir es jemals für uns selbst je sein könnten."

Es dauerte eine Weile, doch die Stimme, die diese Worte in seinem Kopf wie das Pochen an einer schweren Eichentür nachhallen ließen, stellte sich als jene heraus, die sein Eintritt in die Sünde und damit gewissermaßen auch in die Kirche gewesen war. Wenngleich die Stimme seiner Schwester nun etwas erhabeneres, distanzvolles hatte, würde Yngvar sie stets aus dem Gewirr von tausend Mäulern erkennen.

Einfache Fragen, die dennoch keine Antwort produzieren würden, wurden vom Novizen schnell fortgewischt. Fragen danach, was Vigdis nun wohl gerade tun würde und – überhaupt – wie es ihr wohl gehen mochte: Alles sentimaler Schwachsinn. Die zentrale Frage war dafür umso schneller gefunden, nämlich eben die Frage danach, welche Lehre Yngvar aus diesem einfachen Satz ziehen musste und aus welchem Grund.

Hatte er jemanden vergessen? Waren dort Menschen am Wegesrand, an denen er vorbeigeschritten war, ohne ihnen die Hand zu reichen, auf dass Sie in das reinigende Licht des Herrn hinaufkriechen konnten? Hatte er zu viel an sich gedacht und daran, was Mithras in ihm sehen könnte, nach allem was geschehen war und dabei seine Brüder und Schwestern außer Acht gelassen?

Die Kirche, soviel war in jedem Fall sicher, ist ein Konstrukt, dem das Wort "Familie" ein schlechter Vergleich ist und sie doch hinreichend beschreibt, wenn es darum geht, das Miteinander zu erklären. Und tatsächlich hatte er festgestellt, dass die Zahl derer, die tapfer das Wort Mithras' verkündeten, gesunken war. Besonders zwei vielversprechende Anwärterinnen waren immer seltener zu sehen und der Novize fragte sich, ob er Anteil daran hatte.

Fest stand indes, dass diese Frage sich nicht in dieser Nacht klären würde – und so kam es, dass die Frage nach der eigenen Anmaßung und Überheblichkeit die Taten des Novizen in den Hintergrund rücken ließ und er im Zwiespiel der heraufziehenden Monde wie auch im geschäftigen Alltag der Kirche in den Hintergrund der ehernen Steine schmolz, die schon so viele wie ihn kommen und auch gehen sahen.

[Bild: alte-burgmauer-4bc6c0bd-e1bd-4456-b8e3-2...width=1000]
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