FSK-18 Im Strudel der Zeit
#2
Silendir; in ferner Vergangenheit

Als die Jüngere fort gegangen war, wurde das Leben der Alten trist und beschwerlich. So sehr sie sich manchmal über das Geplapper ihrer Tochter aufgeregt hatte, es fehlte ihr. Es gab nun niemanden mehr, der die Kräuter zum Trocknen an das Dachgebälk hing, geschweige denn, dass es überhaupt Kräuter gab, denn in den Wald zum Sammeln machte sich auch niemand mehr auf. Keiner schlug ihr das Kissen im Rücken zurecht oder achtete darauf, ob das Feuer im Kamin noch genügend Holz hatte, um nicht zu erlöschen. Die Besuche der Dorfbewohner blieben irgendwann aus, sogar eine Rotkutte wagte sich in die Nähe der Hütte.

Wie es bei Alten üblich war, begann auch sie in der Vergangenheit zu leben und mit sich selber Gespräche zu führen. Manchmal reichten ihre Erinnerungen nur wenige Wochen zurück, manchmal schweiften ihre Gedanken zu den Tagen, als sie selber eine junge Frau gewesen war. Und was für eine Erscheinung war sie gewesen! Das Haar ebenholz schwarz, die Augen so dunkel wie der tiefste, waldbeschattete See, die Hüften und Büste rund und einladend. Sie hatte viele Verehrer, doch niemand war ihr gut genug, nach dem Kreislauf der Götter die Tochter zu zeugen und so ging Jahr um Jahr vorrüber.

Bis der Fremde im Dorf auftauchte. Ein Tag vor dem anstehenden Branwenfest. Es herrschte sofort eine Art Verbindung zwischen ihnen beiden. Der Mann hatte etwas an sich was ihrer Gabe ähnelte, doch irgendwie anders, als gehöre weder diese Kraft noch er an diesen Ort. Sie konnte sich noch genau an sein Aussehen erinnern: die Züge seines Gesichts blass und edel. Das sanft gewellte Haar dunkel, beinahe schwarz, nur im direkten Licht konnte man den leichten bräunlichen Glanz erkennen und seine Augen wirkten wie graues Eis. Seine Kleidung war einfach geschnitten, doch aus gutem Tuch. Eine silberne Nadeln hielt seinen Umhang zusammen, das einzige Stück von erkennbaren Wert.

Auch die anderen Hühner im Dorf versuchten ihr Glück und biederten sich dem Fremden an, der jedweden Annährungsversuch höflich, doch bestimmend ablehnte. Bei der Jagd am Abend war es eigentlich nur der Form halber, dass sie sich die roten Bänder anlegte. Sie wollte gefangen werden, unzweifelhaft vom wem. Trotzdem war es aufregend, durch das Unterholz zu jagen, Spuren zu legen und zu wissen, dass er ihr auf der Fährte war. Unter einer ausladenden Eiche im Licht des Mondes war es dann soweit und er nahm sich ohne viele Worte zu verlieren die Beute, die ihm zustand. Und nochmals. Und nochmals.

Sie hatte ihn nach dieser Nacht nie wieder gesehen. Der Fremde schien wie vom Erdboden verschluckt. So plötzlich wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Neun Mondläufe später gebar sie eine Tochter. Ida. Doch der Fremde hatte mit Wohlwollen der Götter nicht nur die Frucht seiner Lenden hinterlassen, sondern auch die Silbernadel, welche sie am Morgen danach im Moosbett aufblitzend gefunden hatte.

All’ die Jahre hatte sie das Stück aufbewahrt wie einen Schatz. Die Hoffnung, ihn doch einmal wieder zu sehen und ihm bei dieser Gelegenheit die Nadel zu überreichen, war nie gänzlich gestorben. Die gichtkrummen Finger der Alten strichen sacht und liebevoll über das angegangene Metall und fuhren die eingravierten Initialen ab.

LM
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Im Strudel der Zeit - von Cahira Mendoza - 24.08.2015, 14:35
RE: Im Strudel der Zeit - von Cahira Mendoza - 29.03.2016, 16:48
RE: Im Strudel der Zeit - von Cahira Mendoza - 08.06.2017, 14:00



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste