Die Saat des Irrtums
#32
Ob du in Samt und Seide gewiegt
Oder in härenem Tuch,
In deiner Wiege von Anfang an liegt
Ein Segen und ein Fluch.

Der Fluch ist, daß du leben mußt
Geworfen in diese Welt.
Der Segen, daß du sterben kannst,
Wann dirs gefällt.

~ "Menschheit" - A. de Nora (1864 - 1936), 
Pseudonym für Anton Alfred Noder, deutscher Arzt und Dichter


Regen prasselte auf die alten Steinmauern und das ausgetretene Pflaster. Die vereinzelten, rußschwarzen Pechlampen knisterten und flackerten, wann immer eine Windböe einige Tropfen in die Flammen trugen. Irgendwo im fernen Wald rief ein Uhu sein verwirrtes Lied aus den raschelnden, triebbesetzten Ästen der Bäume.
Der Duft von Blut hing dick in der feuchten Luft.
Kyron warf den wippenden Baumkronen einen abgelenkten Blick zu, eine Braue knickend. Die Äste tanzten vor dem vollen Mond auf und ab, auf und ab, als würden sie ihm zuwinken. Oder Kyron fortscheuchen wollen, bevor er zuviel Schaden anrichten konnte. Die Natur war ein so fürchterlich starrsinniges Ding, und wahrlich nicht seine Domäne. Die Dinge, die unter der Welt vergraben lagen hingegen... Er bleckte die Zähne zu einer Grimasse, die irgendwann einmal ein Lächeln gewesen war, und wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht. Mit einem Rückwärtsschritt trat er zurück unter das baufällige Dach seiner Unterkunft und schüttelte sich; nicht dass es etwas brachte, durchweicht war durchweicht.
Der Raum auf dem Dach der Ruine maß fünf mal fünf Schritt und bestand zum Großteil aus Wänden, Dachresten und Büchern, den einzigen Gegenständen, denen in diesem Territorium so etwas wie Rücksicht geboten wurde. Die meisten Bücher waren in Wachstuch eingeschlagen um sie vor der Witterung zu schützen, zwei davon lagen allerdings geöffnet auf dem kalten Steinboden und wurden von den Pechlampen flackernd beleuchtet. Zwischen ihnen ruhte eine recht schlichte Holzschüssel, geschnitzt aus dem Stamm einer Erle, und ein verzierter Damast-Ritualdolch, der in seinem Leben sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Vor der "Türe" - die eher eine fehlende Seitenwand war - heulte der nasse Frühlingsregen, weiter unten schäumte die See in einem Spiel von schwarz und weiß. Es wäre ein so schöner Ort gewesen, wäre da nicht Kyrons Brut, die sich schamlos eingenistet hatte.
Wäre da nicht die Korruption, die mit jedem Tag weiter aufflackerte.
Gewisse Dinge hatte Kyron lange vor sich her geschoben, während er andere Dinge mit Gusto an sich gerissen hatte. Es war der niedere, allzu menschliche Instinkt, der ihn oftmals fehlleitete und von seinen Plänen fortlockte, aber gleich des Bluthundes, mit dem er sich einen Ruf teilte, fand auch er früher oder später immer wieder zu seinem Pfad zurück. Zurück zu seinen kleinen, eigennützigen Plänen, die es in einem ruhigen Moment abzuschließen galt. Ein Abend wie dieser bot sich da nur zu willig an, denn wer lief schon gerne zum Löchergraben durch strömenden Regen? Nein, eine solche Nacht war für Rituale wesentlich besser geeignet.
Alles war bereit. Kyron ließ sich in die Hocke und dann auf ein Knie sinken und warf weit vorgelehnt einen Blick in die aufgeschlagenen Bücher und die Zeichnungen. Sie waren nicht nötig, Kyron hatte die Passagen so gut wie auswendig gelernt, aber wenn man so wenig Talent zur Hexerei hatte wie er, ging man lieber auf Nummer sicher. Nicht dass seine Arten der Magie sonderlich viel Anspruch an magisches Talent stellten, nein. Die Schwierigkeit war in diesem Fall eher, den Drang des kreischenden Flüchtens zu unterdrücken und sich vom eigenen Ekel nicht abschrecken zu lassen. Ekel war etwas, das der Meister sehr früh aus Kyron heraus geprügelt hatte. 
Eine perfekte Situation. Der perfekte Augenblick.
"Diese Augen sind die Meinen." Mit einem gemäßigten Atemzug schloss Kyron die Augen und tastete nach den feinen Ketten, die seine Schulterteile wie Girlanden dekorierten, um die getrockneten, schrumpeligen Augäpfel von Nora dem Kindermädchen heraus zu pflücken. Sie fielen mit leisem, trockenen Pochen in die Holzschüssel und rollten etwas hin und her, raschelnd wie trockenes Geäst.
Blind fand er den Griff des Ritualdolches und hob ihn bedächtig gen' der offenen anderen Handfläche. "Diese Augen sind die Meinen," murmelte er als das schartige Metall in seine Hand biss und die ersten Blutstropfen in die Schüssel hinab flossen. 
Besitz war eine kuriose Angelegenheit. Manche Dinge wechselten den Besitzer innerhalb von einem Augenschlag - Geldmünzen zum Beispiel -, während andere Dinge loyaler als jeder Hund waren. Häuser, Erbstücke, Körperteile, sie alle beugten sich nur sehr widerwillig, wenn überhaupt. Solcherlei übernatürlichen Widerwillen zu beugen benötigte Fingerspitzengefühl, Geduld und Starrsinn; ein Moment des Zögerns oder Zauderns, und schon waren Äonen der Arbeit dahin und manchmal gar der ganze Plan ruiniert. Es hatte Wochen, nein, Monate gedauert, bis dieses spezifische Paar von gestohlenen Augen endlich nachgab und sich seinem Willen fügte. Die Mühe war das Ergebnis beinahe nicht wert gewesen. Beinahe.
Kyron beugte und streckte die Finger der blutenden Hand einige Male, bis genug Blut die Augäpfel tränkte, und hielt dann die geschnittene Hand offen über die Schüssel. Der Abyss in ihm kreischte und scharrte, begierig darauf, freigelassen zu werden, aber er ließ die Kontrolle nur langsam fahren, stückweise, vorsichtig. Die Kontrolle nun zu verlieren wäre fatal und würde zu unumkehrbaren Schäden führen, seinen Plan mit Sicherheit ruinieren. Ebenso langsam und zögerlich färbte sich auch der Schnitt an seiner Hand schwarz und tropfte pechfarbene Korruption in die Schüssel. Die Augen sogen sich voll, sowohl mit Blut als auch mit dem schwarzen Odem des Abgrunds, bis sie rund und satt wie Trauben in der Schüssel ruhten.
Die Augen öffnend runzelte Kyron die Stirn. Der Anblick von Erfolg hatte etwas höchst Beunruhigendes an sich, das er nicht so recht in Worte fassen konnte, ab davon dass er so etwas viel zu selten erlebte. Und nun wo er dem Ziel so nahe war, wollte ein kleiner Teil in ihm sich verkriechen und die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.
Als ob.
Mit einem Knurren griff er die Schüssel und hob sie an.
"Diese Augen sind die Meinen. Was sie gesehen haben, muss auch ich gesehen haben."
Der Abyss knisterte und flackerte als er die Schüssel vor das Gesicht hob. Die Augen zitterten, wanden sich als hätten sie ein Eigenleben entwickelt, und zuckten dann herum. Noras leere Pupillen fanden die seinen und blickten ihm entgegen. Kyron bleckte die Zähne und knurrte leise auf.
"Zeigt mir was ich nicht finden sollte."
Die Augen gehorchten.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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