Die Saat des Irrtums
#28
Eisiger Wind pfiff durch die kahlen Bäume, krallte über die fensterlosen Säulen und bröckelnden Wände des Baronsanwesens und zerrte an Kyrons gefüttertem Überwurf. Nicht dass er dort viel ausrichten konnte, denn durch die dicke Plattenrüstung, den Gambeson und das Hemd darunter konnte nicht einmal ein starker Regenguss hindurch kriechen. Die Wangen jedoch bekamen den Zorn der Dämmerung zu spüren. Kyron drehte den Kopf ein wenig, gerade genug um den Wind so abzuleiten, dass er die Gugel nicht von seinem Kopf riss, und verfolgte die Linien des alten Gemäuers mit stählernem Blick.

"Sie sagten, sie hätten eigentlich nach mir gesucht."

Nichts regte sich, kein Schatten kroch durch die Finsternis, kein Kribbeln über seinen Nacken. Zumindest nicht hier draußen. Nicht mehr, seitdem das Gebäude von seinem alten Fluch befreit worden war. Nicht mehr, seit Anouk die alten Schatten gehoben hatte. Nicht mehr. Bis heute. Ein Kitzeln im Kieferknochen ließ ihn die Zähne zusammenbeißen und er setzte sich ruckhaft in Bewegung. Ruckhaft, aber nicht überhastet. Nicht kopflos. Mit dem Schritt über die Schwelle nahm auch das Beißen des Windes ab, ersetzte jedoch die Kälte nicht mit Wärme. Schwere, nasse, kühle Luft schlug ihm entgegen, hin und wieder nervös zitternd wenn der Wind durch einen Riss oder ein gebrochenes Fenster den Weg ins Innere fand, aber größtenteils konfus auf der Stelle bleibend.
Kein Risiko. An jedem Türstock blieb er kurz stehen, warf einen Blick um die Ecke und bewegte sich erst dann tiefer, die Sohlen so leise absetzend, wie es jemand in voller Platte möglich war. Zugegeben, ein Dieb würde er nie werden, aber für eine versteckte Untersuchung der Ruine reichte es gerade so aus.

"Sie sagten, sie wollten mich den Zweiundzwanzig opfern."

Der moderzerfessene Holzboden im ersten Stock knackte und knarrte unter seinem Gewicht, sank hier und da ein und bog sich andererorts bedrohlich durch, aber es war nicht sein erster Ausflug in das Gemäuer. Im Sommer schien alles stabiler, vertrauenswürdiger, fester, aber auch im Winter wusste er, wo die Stützbalken verliefen, wo er die Füße aufsetzen durfte, und wo eben nicht.
Eine sorgfältige Untersuchung brachte allerdings... nichts. Niemand hier. Die Ritualparaphernalia fort, verstreut, weggewischt, bevor ein wissenderes Auge einen Blick darauf werfen konnte. Alle Spuren verloren, keine verdächtigen Stofffetzen, Fußabdrücke, Notizzettel mit einem Geständnis. Nicht, dass Kyron allzu große Hoffnungen gehabt hatte, aber jeder verdiente es, einmal überrascht zu werden. Sein Tag war es allerdings nicht.

"Sie hatten irgendwelche Tiernamen."
"Katzen?"

"Natter und Wildkatze."

Seine Zähne knirschten unter dem mal wachsenden, mal schwindenden Druck seiner zuckenden Kiefermuskeln. Das violette Unlicht des Abyss kroch wie von selbst durch seine Augen, färbte die Ströme und Windungen der Unterwelt auf Erden, und ließ doch nichts als einen fahlen Nachgeschmack von... Etwas... in der Luft. 
So hübsch. So verdorben. So gefährlich.
Sie waren nicht mehr hier. Hatten das Weite gesucht, alle beide, kaum dass Anouk sie aufgeschreckt hatte. Heillose Flucht, den letzten zuckenden Fäden von Korruption nach. Und die Spur riss im Wald hinter dem Anwesen ab, verschluckt von den Windungen und Wellen der Natur. Und der Götter. Es würde ihnen nichts helfen, nicht in diesem Fall. So schnell konnte die Wahl des falschen Opfers, des falschen Ortes, der falschen Worte, zum Untergang führen, und so schnell zeigte sich, wer ein Rehkitz war und wer nicht. Beinahe taten sie ihm leid.

"Sie wollten sie opfern. Und sie hatten diesen Stein."

Beinahe. Nicht wirklich. Nicht mit dem pulsierenden Wummern des Blutsteins in seiner Gürteltasche. Er hatte Anouk nicht verschrecken wollen, hatte sie höflich darum gebeten, den Stein auszuhändigen, aber der Drang, ihn ihr aus den Fingern zu reißen, war beinahe übermächtig gewesen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hatte sie den fahl glimmenden Stein zur falschen Zeit am falschen Ort mit sich getragen. Nicht auszudenken. Diese dummen Gören.
Rage erhob ihren hässlichen Kopf und schärfte sich die Zähne an seiner Kehle, biss zu, schüttelte. Kyron streckte die Hand aus, zog an der nächstbesten Wand eine Spirale in das Moos, und schloss die Augen als das Biest in seinem Kopf jaulend und kläffend wieder in die Tiefen seiner Brust verschwand.
Dies war kein Moment für kopflose Rage. Kein Moment für Empörung. Mit einem leisen Ausschnauben blätterte sein Verstand durch die schier unendliche Sammlung an Emotionen, wog ab, verwarf wieder und wählte schließlich kalten, kontrollierten Zorn aus. Die Erinnerung an den Wachtmeister in Lilienbruch, der seinen Hund mit einem scharfen Tritt in den Hintern davon abhielt, ein spielendes Kind zu beißen, wehte einer alten Spinnwebe gleich durch seinen Verstand und ließ sich dort nieder.
Kyron rollte den Kopf bis sein Nacken knackte und atmete schwer aus. Ja, so würde es sich bewältigen lassen. So würde er sich davon abhalten können, sie kurz und klein zu schlagen. So würde er der Frage auf den Grund gehen können:

Warum bei allen Niederhellen hat das Klüngel beschlossen, sich die Götter zum Feind zu machen?
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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