Die Saat des Irrtums
#24
O du, vor dem die Stürme schweigen,
Vor dem das Meer versinkt in Ruh,
Dies wilde Herz nimm hin zu eigen
Und führ' es deinem Frieden zu;
Dies Herz, das ewig umgetrieben
Entlodert, allzurasch entfacht,
Und, ach, mit seinem irren Lieben
Sich selbst und andre elend macht.

Entreiß es, Herr, dem Sturn der Sinne,
Der Wünsche treulos schwankem Spiel;
Dem dunkeln Drange seiner Minne,
Gieb ihm ein unvergänglich Ziel;
Auf daß es, los vom Augenblicke,
Von Zweifel, Angst und Reue frei,
Sich einmal ganz und voll erquicke,
Und endlich, endlich stille sei.

~ Emanuel Geibel (1815 - 1884)

Kyron schrak hoch, verspannte sich und warf sich zur Seite, erbrechend noch während er aus der Heilerliege stürzte. Die flink vorgezogenen Ellebogen hielten ihn davon ab, in die Pfütze aus Tee und Weidenrindenextrakt zu fallen, aber der Gestank klammerte sich trotzdem an seine Nase und seinen Rachen und brachte seinen Magen dazu, wiederholt hart zu krampfen. Die Schmerzen der unzähligen Schakalbisse blühten nur träge wieder auf, ein Hintergrundrauschen das von der elenden Angst mühelos übertönt wurde.
Japsend stieß er sich ab, rollte erneut zur Seite und kam mit einem mühevollen Ächzen auf dem Rücken zum Liegen, das Zittern in seinen Gliedern seine eigenen Wege gehen lassend während er sein Bestes gab, die Augen nicht erneut zu schließen. Eine Angst wie diese, knochentief und stark genug um seinen ganzen Leib mitzureißen, hatte er seit Jahren nicht mehr empfunden; umso heftiger brannte die Abscheu gegen sich selbst durch seinen Leib. Es war nur ein Traum, nichts als ein Traum, und doch war es, als könne er diese spezifische Vision nicht mehr aus seiner Erinnerung tilgen. Zwischen all den Nachtmahren und Albträumen war dieser der Schlimmste seit langem, und der Erste der sich in dieser Form an seine Familie herangewagt hatte. Träume über Foltern, vergangen und zukünftig, über die Zerstörung der Welt, die Vernichtung seiner Freunde oder gar den Tod seiner Familie waren nicht ungewöhnlich, aber sie hatten schon lange ihren Biss verloren. Dienten zu nichts anderem als dem Ansporn, seinen Meister weit von seiner Familie fern zu halten, zu trennen, niemals die Konzentration zu verlieren, niemals die Wachsamkeit fahren zu lassen, sich anzustrengen, immer in Alarmbereitschaft zu sein...
Es hatte so gut funktioniert, und nun war nichts mehr sicher und all die Selbstbeherrschung zerstört.

"Du sollst sehen, was die Zukunft bringt, was ich sehe. Was unvermeidlich geschehen wird."

Die Schmerzen kamen endlich, fraßen endlich an Angst und Schrecken und erinnerten ihn an das heiße, entzundene Fleisch und die Pein die all das Rollen seinem Leib auferlegten. Hundebisse. Schakalbisse, oder wie auch immer man es nennen wollte. Kein Weg führte an den Entzündungen vorbei, auch wenn sie mit sorgsamer Reinigung und Aufmerksamer Behandlung, Tee gegen das Fieber und Bettruhe gut behandelt werden konnten. Niemand - am allerwenigsten Kyron selbst - hatte angenommen, dass er am Tag nach der Schlacht quietschfidel aus dem Bett springen würde, aber in der aktuellen Lage waren im nur zwei Optionen zur Auswahl gestellt worden: Pest oder Keuche, das Bett mit all den Albträumen, oder der Kampf und das Risiko einer Verschlimmerung der entzundenen Bisse.
Für ganze zwei Herzschläge lang schloss Kyron die Augen und versuchte sich zu sammeln. Die Erinnerungen an den Traum kamen sofort, trieben ihn mit einem Aufzischen schwankend auf die Beine und ließen seinen Atem und sein Herz davonhetzen, während er um sein Gleichgewicht focht. Schwärze pendelte an seinen Augen vorbei und nahm der Hohenqueller Heilerstube ihre Farben, nur um sich langsam und ebbengleich wieder zurück zu ziehen und sich in seinem Hinterkopf auf die Lauer zu legen.
Die Wahl wurde für mich getroffen. Ganz wie früher.
Die Schwere verließ seine Glieder nicht einmal dann, als er die Rüstungsteile fertig eingesammelt hatte, die Verbände straff zog und sich in die Schienen- und Plattenteile zwängte, aber jeder stechende Schmerzmoment trieb die pechschwarzen Erinnerungsblitze weiter zurück in sein Unterbewusstsein. Die Arbeit des Aufrüstens trieb ihm den Schweiß aus den Poren und den Gestank nach altem Blut aus seinem krustigen Gambeson. Die Mischung aus Schmerz, geschlagenem Metall, Schweiß und Waffenöl beruhigte sein Herz wie ein alter Bekannter, aber der Weg die Treppen hinab trieb im dennoch die Luft aus den Lungen. Ein Glück, dass die Heilerin in diesem Moment nicht neben seiner Liege gelauert hatte; sie hätte ihn vermutlich nicht nur geschimpft, sondern auch mühelos zurück ins Bett verfrachtet, so zittrig wie seine Glieder sich gerade anfühlten. Erst die kühle Nachmittagsluft vermochte es ihm etwas seiner Lebenskraft zurück zu verleihen, und er nutzte den Kraftschub für eine zügige Flucht vom Ortskern weg.
Die Rüstung scheuerte gegen seine verbundenen Wunden, ließ ihn bedächtig aber stetig voran schreiten, das Mittelmaß zwischen zuviel und zuwenig Schmerz bedächtig auslotend bis er ein Tempo gefunden hatte, das seinen Ansprüchen gerecht wurde. Was wenn der Meister recht hatte? Was wenn Lionel seine ganze Familie gefährdete, unbeabsichtigt und unfreiwillig, aber eben doch? Kyron wusste dass sein Sohn keinen bösen Knochen im Leib hatte, aber dasselbe galt auch für Cahira, und die hatte sich trotzdem einen Ehemann angelacht, der nur aus bösen Knochen bestand. Konnte Kyron also wirklich davon ausgehen, dass schiere Unschuld alles Böse fernhalten konnte?
Nein. Natürlich nicht. Cahira und er waren das beste Beispiel dafür, dass den unschuldigsten Wesen die schlimmsten Schicksale auferlegt wurden. Gemessen an ihrer Vergangenheit würde also das prophezeite Elend genau in ihr Schicksal passen. Der krönende, widerwärtige Abschluss eines Dramas, das vollkommen überflüssig war und nur entstehen hatte können, weil er - Kyron - darauf bestanden hatte, alle Warnungen in den Wind zu schlagen und aus schierer Selbstsucht jemanden wie Cahira an sich zu binden. Und nun saßen sie alle fest, ineinander gefangen wie ein galatischer Knoten.
Kyron ballte die linke Hand bis der Schienenfäustling gegen die Bisswunde drückte. Der Schmerz war unvermittelt, scharf und pochte bis tief in seine Knochen, aber er vereinnahmte auch seinen Verstand, befreite ihn von den dunklen Gedanken. Natürlich würde er Cahira nicht verlassen, dafür war es viel zu spät. Der Brei war bestellt, gekocht und gegessen worden, also würde er nun auch die dreckigen Reste annehmen müssen. Verließ er sie nun, würde er sie von nichts bewahren, vor nichts beschützen, im Gegenteil. Er würde sie mit der drohenden Dunkelheit alleine lassen, schutzlos ins Fegefeuer werfen das er selbst erzeugt hatte.
Es blieb nur ein Weg, und selbst der war alles andere als verlockend. 
Hör auf zu jammern. Du windest dich wie ein alter Aal am Haken, dafür ist immer noch Zeit wenn tatsächlich nichts anderes mehr hilft. Fürs Erste kannst du immer noch andere Wege ausprobieren. Du hast noch zwei Monde Zeit.
Zwei Monde noch, dann war das Julfest da. Und in diesen zwei Monden musste er es schaffen, Lionel so weit wie möglich von seiner Mutter fern zu halten. Und von seiner Schwester. Und von der Klinge. Von allen, die seinen Kräften anheim fallen konnten. Er würde es schaffen. Er würde den perfekten Grund finden, immerhin kannte Cahira bereits die wichtigsten Details, war mit ihm übereingekommen darüber, dass der Junge gebändigt werden musste, gelehrt werden musste. Wenn das mehr Zeit als üblich in Anspruch nahm, wer konnte schon sagen ob das normal war oder nicht? Und Lionel würde Patroullien sicherlich zumindest für eine Weile genießen, würde sich freuen darüber lange Ausritte machen zu können, in der Waffenkammer spielen zu dürfen, geheime Spiele mit seinem Vater zu spielen, mehr vom Land zu sehen. Er würde sich fühlen wie ein Mann statt ein kleiner Junge der an seiner Mutter hing. Zumindest im besten Fall. Alles was Kyron dafür tun musste war wachsam bleiben, konzentriert bleiben, vorausschauend agieren, niemals die Aufmerksamkeit ablenken von seinem Tun, in Kontrolle bleiben,...
Mit einem heiseren Auflachen schwankte er über die provisorischen Planken und auf die andere Seite der Frontlinie. 
Nicht mal du selbst glaubst dir das.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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