Die Saat des Irrtums
#18

Bist du gekommen, mich zu richten?
So hör meine Worte: ich fürchte dich nicht.

Bist du gekommen, mich zu strafen?
Glaub mir, ich habe keine Angst.

Bist du gekommen, mich in die Hölle zu geleiten?
Sieh, ich reiche dir meine Hand.

Bist du gekommen, mich zu richten?
So hör meine Worte: ich richte mich selbst.

Bist du gekommen, mich zu strafen?
Glaub mir, das tue ich Tag für Tag.

Bist du gekommen, mich in die Hölle zu geleiten?
Sieh, da bin ich bereits.


~ Sarah Razak (1975) - Schwarz (Auszug)




Knisternd weiße, lauwarme, gestaltlose Leere.
Irgendwo in der Ferne saß das Bewusstsein, dass ihm kalt war, dass er vom Regen durchweicht worden war, dass sein Magen krampfte und sich zusammenzog um den einen Schluck teuflischer Brühe, den er getan hatte, dass seine scherbenversehrten Sohlen schmerzten, dass er seit vier Tagen nichts gegessen hatte, dass er durstig war, oh so durstig, so unendlich durstig, wie man es nur nach Blutverlust sein konnte. Fern, so fern von ihm, so unbedeutend im Weiß, das seinen Kopf umflocht. Es war ein Ausblick durch sattes Sommerlaub, aus dem Wald seines neuen Kopfes hinaus zu einer Lichtung, wo er die Reste seiner Existenz zurückgelassen hatte um sich selig zu sonnen, während der Untergang seinen Lauf nahm. 
Noch ein paar Stunden zuvor hatte keine der Andeutungen des Meisters Sinn gemacht, und Kyron hatte sie einfach hingenommen, akzeptiert mit dem loyalen Stumpfsinn von Schlachtvieh, das einfach nicht in der Lage gewesen war, wirklich zu verstehen was ihm gesagt wurde. Kreise, Pentagramme, säuberlichst auf den Boden gemalt und doch immer und immer wieder kritisiert, zerschlagen, fortgefegt, begleitet von schmerzhaften Zurechtweisungen, ähnlich musste einem Jährlingshengst die Gewöhnung an das Halfter vorkommen. Wieviele es gewesen waren, wieviele Muster Kyron in den letzten zwei Tagen nach dem Brechen der Spirale gezogen hatte, wusste er nicht, nur dass es über fünfhundert gewesen sein mussten, und der Meister hatte sich unversöhnlich gezeigt.
Was Kyron noch an unkontrolliertem Temperament gehabt hatte, war in diesen Stunden fein säuberlich mit der schärfsten Klinge abgezogen worden, bis nichts zurück blieb als das Weiß.
Das Weiß hatte ihn durch die Nacht geleitet, hatte ihn furchtsame Blicke vergessen lassen, hatte ihn Ungeduld vergessen lassen, und Wut, und Missgunst. Der Meister hatte wahrlich nichts dem Zufall überlassen. Jeder Schritt des Abends war hundertfach durchgespielt worden, jedes Wort in seinen Kopf gehämmert, jede Bewegung wiederholt worden bis Kyron im Stehen einschlafen wollte. Die eigentliche Anrufung vor den Augen aller hätte sich beinahe unspektakulär angefühlt, wären da nicht die starren Blicke des Meisters einerseits gewesen. Und andererseits-
Nein. Schau weg.
Und dann war ihm ein zweites Herz gewachsen. Ein parasitärer Zwilling, irgendwo an seiner Seele vernabelt, zurückgehalten vom Weiß und gleichzeitig ein Druck auf seinen Geist wie ein unterdrücktes Lachen. Er wollte daran kratzen, das Weiß knacken wie eine Eierschale, das Lachen heraus lassen, es seine Gewebe ausstrecken lassen, sehen was daraus erwachsen mochte. Ein Juckreiz, ein stetiger Juckreiz.
Der Meister hatte ihn allerdings auch darauf gut vorbereitet. Nicht daran zu kratzen, niemals wieder seine Kontrolle fahren zu lassen, niemals wieder sich selbst von der Kette zu lassen, das war der Preis gewesen. Das Kratzen in seinem Kopf war vom selben Klang wie jene Zornanfälle, als er das erste Mal die Spirale gezogen hatte, aus feinem Sand, in verwackelten Bahnen. So lästig es war, es ließ sich leicht zügeln... zumindest wenn man wusste, worauf es zu achten galt.
Mit einem leisen Ächzen hob Kyron den Kopf von der Liege und warf einen Blick zu dem nahen Loch in der Wand, wo die ersten kaltblauen Lichtstrahlen ihre Klauen durch die Ritzen entsandten. Fünf, vielleicht sechs Stunden seines Lebens fehlten. Er erinnerte sich nicht daran sich hingelegt zu haben, und er erinnerte sich nicht daran aufgewacht zu sein. Alles floss ineinander, verlor Kanten und Kontrast, sobald er darüber nachzudenken versuchte. Seine letzte Erinnerung war jene an den Schluck von rauchigem, dickflüssigem Blut-
Gehorche dem Meister. Beherrsche dich.
Wie zur Antwort presste das Lachen schärfer gegen seinen Hinterkopf und zwang ihn mit einem Schnauben aufzustehen. Die Robe war immer noch nass und klamm, roch nach Rauch und Hausmulch, und erinnerte ihn daran wie kalt ihm war. Er zog den durchweichten Stoff vom Leib und sammelte seine Rüstung ein, das Weiß vorsichtig und feinfühlig durch seine Gedanken balancierend bis er sich sicher sein konnte, dass dieser neue Panzer in seinem Verstand nicht so leicht abfallen würde. Er würde an diesem Tag noch oft genug auf die Probe gestellt werden.
Fertig in das altvertraute Metall gehüllt und zumindest etwas wärmer als zuvor erklomm er die bröckelnden Stiegen hinauf zum Sitz des Meister, jeden Schritt bedacht und konzentriert nehmend während die steifen Muskeln ihre Klagen zu dem sonstigen Strom an Pein hinzufügten. Der Schmerz war nebensächlich, jetzt noch mehr als zuvor. Schmerz war Leben. Neugeburt.
Erst drei Schritte vor dem finsteren Verschlag hielt er inne, sank atonal klimpernd und knarzend auf ein gepanzertes Knie und beugte das Haupt vor den lauernden Schatten. Nicht, dass er eine Antwort erwartete, aber wortlos zu verschwinden war unvorstellbar. "Man wird mich vermissen, Meister. Ich kehre zurück."
Stille. 
Die Sonne hatte ihr gesamtes, hässliches, helles Angesicht gerade erst hinter dem Horizont hervor geschoben, da erhob Kyron sich aus der knienden Pose, streckte das steife Bein bis ein Knacken von Erfolg sprach, und wandte sich ab. Rabenstein wartete.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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