Die Saat des Irrtums
#14
Zitterst du vor der Brücke,
Schreckt dich ihr düsteres Kleid?
Oder ahnst du die Lücke – ?
Stürzest ja doch in ein Leid.

Wage jetzt deine Schritte,
Klopft auch zum Sterben das Herz.
Bald umfängt dich die Mitte,
Ein Abgrund dunkel von Schmerz.

Brücke der Angst - Francisca Stoecklin (1894 - 1931)

'Hör jetzt auf zu reden, Narr,' wisperte die Stimme des Meisters durch seinen Kopf.
Wulfrik Greiffenwaldt war ein gefährlicher Mann. Wäre die Nacht nicht von so beißender Kühle gewesen, der Schweiß wäre Kyron auf die Stirn getreten, selbst dort draußen auf dem windumwehten Pier. Vielleicht war es Mithrashexerei, die seine Lippen so zum Plappern anregte, wo er sonst ein wenig leutseliger Kerl war, aber schlimmer war der Gedanke, dass der Priester ganz von sich aus diese Aura hatte, die einen gestandenen Mann dazu trieb, sich anvertrauen zu wollen.
Kyron wollte sich anvertrauen, der Drang danach lag ihm stets in der Kehle. Es war der Drang, der dem Meister so viele neue Kreaturen zugespielt hatte, denn in manchen Momenten war es der Wille und die Bereitschaft dazu, über den bleichen Lord zu sprechen, der die richtige Wahl schien. Nicht aber im Angesichte eines Lügenpriesters, nicht im Angesichte eines Dieners des Blenders.

Ein paar Wochen lang war Kyron dem bösen Marktplatz ausgewichen, als handle es sich um einen Beichtstuhl, ungewillt seiner Frau, den Zweitürmenern oder gar einem Rotrock zu begegnen.
Als nächstes hatte er sich um eine Arbeit bemüht, denn ein arbeitender Ketzer mochte wohler gelitten werden, als einer der nutzlos herum lümmelte, und dem Vorwurf auch noch zuspielte. Es war nun keine gleißende oder ehrenhafte Anstellung, die er sich in der Stadtwache auftat, und die Aussicht auf das ewige Rekrutentum war kaum mehr als ein fahler Abglanz seiner früheren Ränge, Titel, Posten. Aber ein Bettler mochte nicht mäkeln, und zumindest schien die Kirche das Königspurpur als beruhigend genug zu empfinden, um ihm etwas mehr Platz zum Atmen zu lassen.
Und dann, als er eine Arbeit gefunden hatte, und als er ein Heim in Aussicht gestellt bekommen hatte, dann hatte die übliche Unzufriedenheit wieder zugeschlagen. Dieses Mal war es Belshira gewesen, die in ihrem austrocknenden Elend ihrem Temperament freien Lauf gelassen hatte. Ihn praktisch gezwungen hatte, ihr Dinge anzutun, die er zwar eigentlich mit einem gewissen sadistischen Genuss vollführte, normalerweise aber dem Feind vorbehielt. Und dazu der Anblick seiner zwei anderen Kumpanen, die wie Theaterbesucher daneben standen, und sich so gar lästerlich unbeteiligt gaben, bis er sie angebrüllt hatte... Nein. Es war kein schöner Abend gewesen. Unzufrieden hatte ihn die Sache belassen, und Unzufriedenheit führte zu Leichtsinn.

Der Brunnen auf dem Marktplatz war immer noch der Ort, an dem die interessantesten Dinge geschahen. Gleichwohl war es allerdings ein gefährlicher Ort für Gebrandmarkte, lagen die Kirchentore doch keinen Steinwurf weit entfernt. Die Wachengugel, purpur und unpersönlich, schaffte Abhilfe, wo er zuvor bejagt worden war wie der letzte Hirsch in Guldenach. Die Nacht war immer noch kühl, von einem unsteten Wind durchsetzt, wie man ihn im Spätwinter - oder Frühfrühling? - erwartete, aber still und vergleichsweise menschenleer, sah man von der einsamen, verschlafen wirkenden Wachfrau Affra ab, die steif wie ein Brett, und ebenso leutselig, am Pranger hofierte.
Die Stille dieses Ortes hatte etwas geradezu Magisches an sich, und wurde erst von einer Stimme durchbrochen, die Kyron nicht erwartet hätte, zumindest nicht an ihn gerichtet.
Die edle Vogtin Eirene Kerlow von Löwenstein war inzwischen bekannt für ihre wechselnde Menagerie an männlichen Begleitern, "Leibwächter" wie sie beteuerte, und gerade bei Kontakt zu Kyron war bisher eigentlich stets jemand zur Stelle gewesen, um mit der Hand am Schwert klar zu stellen, dass er als Persona Non Grata nun wirklich kein Recht hatte, so dicht an eine atmende Frau heran zu treten.
Dieses Mal jedoch war sie alleine, unbeschützt, unbehütet, und in ihren Augen konnte Kyron das selbe Funkeln entdecken, das seine Brust seit Tagen peinigte: Unruhe.
Wäre er nicht so sehr in den eigenen Gedanken gefangen gewesen, er hätte die versteckten Vermutungen in ihren Worten vermutlich früher bemerkt. Das Elend der Unruhe aber war es, das ihn durch ein Gespräch stolpern ließ, in dem er nur knapp der Vermutung einer Mittäterschaft im Giftanschlag entkam, nur um gleich darauf geradezu Greiffenwaldt'sche Fragen zu Seelen und Hexern und den Göttern entgegen geflüstert zu bekommen.
Irgendwo, tief in der Brust begraben, heulte der Wolf, brüllte der Drache, Stimmen der Gewalt in einem Gefängnis aus Lethargie.
Nicht dass er auf den Lockruf reagierte, nein. Brav und sittsam antwortete er wo er konnte, und ließ vor seinem inneren Auge abwechselnd die Kirche des Mithras in Flammen aufgehen, oder aber die gediegen-modischen Kleider vom Leib der Vogtin pellen. Weißes Fleisch und rotes Blut und Flammenmeer. Der Meister wäre stolz auf mich.
Die früheren Versuche, ihn mit dem fremden Wesen Emotion in Berührung zu bringen, hatten unterschiedlich katastrophale Folgen gehabt, und beide Männer belehrt, keine allzu wagemutigen Expeditionen mehr in Kyrons Gefühslwelt zu unternehmen. Andererseits war der zwischendurch herrschende Zustand von völliger Winterkälte im Herzen auch kaum mehr erhaltenswert geworden, und selbst Kyron erkannte die Notwendigkeit, eine Zwischenstufe zu erreichen. Irgendwo zwischen geistlosem Säufertum und der Herzenswärme einer Salzsäule musste ein Ort liegen, an dem der Mann funktionieren konnte, und gerade die Vogtin, so unerwartet es auch kam, offenbarte ihm einen Ausblick darauf, wo dieser Ort sein konnte.
Noch während Kyron sich träge vom Marktplatz entfernte, verfolgt von bohrenden Blicken, wie sie nur Offiziere der Stadtwache produzieren konnten, da wiederholte er die Gemälde vor dem inneren Auge, wieder und wieder. Brennende Kirche. Nackte Vogtin. Lodernde Flammen, welche die obersten Bleiglasfenster aus den Türmen des Teufelshauses sprengten. Das zotige Stöhnen einer braunhaarigen in den Fellen. Feuerleckende Roben an schreienden Menschen. Warme, schweißfeuchte Schenkel um seine Taille.
Das erste Mal seit Wochen zeichnete sich ein feines Lächeln auf Kyrons Miene ab.
Nicht übel. Gar nicht übel.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 24.08.2015, 05:33
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 03.09.2015, 08:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 26.09.2015, 02:14
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 28.09.2015, 16:21
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.09.2015, 23:27
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 30.09.2015, 17:07
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 02.10.2015, 17:55
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 10.10.2015, 03:12
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 13.10.2015, 17:51
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 19.11.2015, 20:40
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.11.2015, 16:17
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 22.01.2016, 14:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 14.02.2016, 21:31
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 22.02.2017, 14:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 09.05.2017, 11:13
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 14.05.2017, 12:32
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 17.05.2017, 00:41
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 18.09.2017, 13:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 04.10.2017, 13:03
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 28.10.2017, 10:43
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.10.2017, 19:38
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 31.10.2017, 13:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 31.10.2017, 18:19
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 30.11.2017, 03:11
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.09.2018, 09:39
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 13.02.2019, 10:01
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 02.03.2019, 23:11
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 07.03.2019, 10:20
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 09.03.2019, 12:27
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 11.01.2020, 03:58
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 18.03.2020, 00:49
RE: Die Saat des Irrtums - von Cahira Mendoza - 23.03.2020, 20:56



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste