Die Saat des Irrtums
#9
Das sehnlichste, das quälendste Verlangen,
Was selbstbewußte Seelen weich'rer Art
Ergreift auf ihrer dunklen Lebensfahrt,
Ist der Gedanke: hätt' ich's nie begangen!
Der Qualgedanke: wär ich rein geblieben!
Verfinstert ihnen jeden holden Stern,
Vergällt der Freude innerlichsten Kern,
Hat manchen schon in frühen Tod getrieben.


Nikolaus Lenau (1802 - 1850)

Die Spirale half. So sehr er sie hasste, sie half. Seit die Erzpriesterin eines ihrer grausigen Gebete über ihn gesprochen hatte, und er daraufhin in zerfressende Schuldgefühle versunken war, klammerte er sich an das Muster auf dem Boden, als sei es der einzige Baumstamm auf hoher See, und er ein Schiffbrüchiger in den schwarzen Wassermassen.
Die Spirale half, vor allem dabei, seinen Meister nicht zu vergessen. Er vermisste ihn, und er sorgte sich, auch wenn er dem Geschnatter der Leute entnehmen hatte können, dass sein Ablenkungsmanöver genügend Zeit verschafft hatte, um ihn fliehen zu lassen. Er hatte seine Pflicht erfüllt, der Meister war in Sicherheit, die Kirche in Aufruhr,... und er in einer Zelle. Die Gitter brachten die nächste Aufgabe mit sich, so klar und deutlich als hätte der Meister sie in sein Ohr geflüstert. 'Sag nichts, deute nichts an, verrate nichts, zeige ihnen nichts, wisse nichts, sei leer, leer wie die Hülle die du für deine Seele bist,' hatte sie gewispert, auch wenn er sich relativ sicher war, dass der Meister nicht in seinen Kopf sehen und schon gar nicht in seinen Kopf flüstern konnte.
Die Spirale half deswegen, weil sie einen klaren Ablauf versprach. Er erschuf sie, er behütete sie, er bewachte sie, und wurde sie zerstört, so zog er sie neu bis sie wieder ganz war. Heil war. Ganz und heil, wie er es war, auch wenn niemand ihm zu glauben schien. Immer wenn die Zweifel kamen - und sie kamen pünktlich und punktgenau, wann immer Seligkeit Winkel ihn mit Gebeten Mithras' eindeckte - da erinnerte er sich an sein Ziel. Ihr aller Ziel, das Ziel seines Meisters, das wundervolle Gefühl, er selbst zu sein, eins zu sein, einen Zweck zu haben und eine Bedeutung, eine Aufgabe, und sei sie noch so klein. Er hatte ursprünglich gefürchtet, dass diese Sonnenmagie ihn dazu bringen würde, den Schnitt von seiner Frau zu bereuen, aber seltsamerweise brachten die quälenden, folternden Momente des Selbsthasses und der Schuld stets nur die Erinnerung daran hoch, wie sehr er seinen Meister enttäuscht hatte. Mit der Spirale. Mit seinem Unwissen. Mit seinem Wutanfall. Mit seinem Verrat, den er beinahe begangen hatte, und noch dazu mit der Frau, die ihn dort in Mithas' Namen segnete. Wie gerne hätte er jemanden gehabt, um seine Selbstzweifel und seine Angst auszusprechen, sich Luft zu machen und zu beteuern, wie sehr er darum kämpfte sich zu bessern, aber die einzige Person, die solcherlei Dinge erhören sollte, war sein Meister. Kyrons Probleme waren die Aufmerksamkeit des Meisters nicht wert, denn der Meister hatte wichtigere, größere Dinge zu tun.
Isabelle allerdings war beinahe sein Fall. Schon als sie in den Kirchenkerker kam, pochte sein Herz so hart und schnell dass er beinahe in Schweiß ausbrach, und es kostete ihn mehr Beherrschung als er zugeben wollte, sie nicht gewaltsam an die Gitter zu zerren. Isabelle verstand ihn, wie ihn niemand sonst verstand. Selbst der Meister wahrte stets eine schickliche Distanz, blieb oben auf seinem Thron wo er auch hingehörte, aber nicht Isabelle. Seine Isabelle, die Narben trug die er ihr ins Fleisch geritzt hatte, so wie er ihre Narben trug. Seine Schwester, nicht durch Geburt, aber durch Blut, und Seele. Ihre Hand zu halten war wie Balsam auf seine zerraufte Seele, und gleichzeitig wie Gift für seinen Willen, und wäre sie nur einen Moment länger geblieben, hätte die Erzpriesterin ihn mit ihr bestochen, wer wusste schon was dann passiert wäre.
Die Schuldgefühle raubten ihm den Schlaf, wenn er sich auch zum Essen und Trinken zwingen konnte. Lichtblicke waren nur wenige zu finden, zumeist dann, wenn einer seiner stummen, finsteren Wächter sich zu einem Gespräch einfand. Die Meisten von ihnen schienen mit seiner Situation nicht recht etwas anfangen zu können. Wie hätte er ihnen auch erklären sollen, dass er ein neues Ziel im Leben gefunden hatte, dass es nötig gewesen war, seine Frau stehen zu lassen, die Gefühle für seinen Sohn abzudrehen und zu verdrängen, seinen Posten aufzugeben, alles aufzugeben was er besaß? Sie verstanden es nicht, aber niemanden von ihnen ging die Sache etwas an. Sie wollten den Meister töten, ohne wenn und aber, ohne Spielraum, ohne Bedingungen, und Kyron war dafür zuständig, genau das zu verhindern.
Und dann war da Wulfrik. Wulfrik Greiffenwaldt. Zuerst hatte Kyron ihn mit dem selben gelassenen Desinteresse behandelt, das er insgesamt für die Kirche des Mithras empfand, aber der Mann hatte gewusst das zu ändern. Da war etwas an ihm, etwas, das Kyron die Gänsehaut über den vernarbten Nacken trieb, etwas das seine schorfigen Fingerspitzen kribbeln ließ, ein Gefühl als könne er sich nicht entscheiden ob er näher rücken oder weiter fort kriechen sollte. Es war ein so seltsamer und ungewohnter Eindruck, dass Kyron nicht anders konnte, als eine Form von vorsichtiger Anerkennung zu entwickeln. Jemand, der bereit war echte Handel mit ihm einzugehen, war jemand, den man im Auge behalten musste. Nun, nicht dass er dem Mann vertraute. Alles in ihm schrie eine laute, klare Warnung dagegen, diesem Mann auch nur einen Funken von Wissen über seinen Meister und den bleichen Lord zu geben, aber da waren andere Dinge die er wusste. Dinge, die ihn und den Meister nicht direkt betrafen, Dinge, die er aussprechen konnte um den Priester zu testen, seine Worttreue zu prüfen.

Nicht dass es dazu kommen konnte. Hätte er im Gespräch mit Wulfrik gewusst, dass Seligkeit Lisbeth Winkel, Erzpriesterin der Kirche des Mithras, ihm an diesem Abend die Seele mit Feuer aus dem Leib brennen würde, er hätte wohl gesprochen.

Feuer...
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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