Scherbenwelt
#3
Wenn man sie fragen würde warum sie denn immer in diese Welt, ihre Welt, zurück wollte, dann wüsste sie auf Anhieb wohl keine Antwort darauf.
Jedenfalls war es bei weitem nicht das Gebiet welches sie anzog.
Viel mehr waren es die Zustände in denen sie sich dort befand. Nichts negatives fühlte sie dort, keinen Schmerz, keine Trauer, kaum Ängste. Höchstens Entscheidungsängste, aber das war auch schon das negativste aller Gefühle.

Und aus diesem Grund, zumindest wenn man vom Bedürfnis des Schlafens absieht, sank sie immer wieder in diese Welt hinein…




Avinia schreckte zusammen als der große Rabe so plötzlich auf ihrer Schulter saß. Ihre Augen schielten seitwärts in Richtung des Vogels. Leicht krallten sich seine Füße zum Festhalten in ihre Schulter. Das Gewicht des Raben schien wie vorher, als er auf dem Ast saß, wirklich kaum existent zu sein, vielleicht wog er gerade mal soviel wie ein Blatt Papier oder eine Handvoll Federn.
Sein linker Flügel, er saß auf ihrer rechten Schulter, legte sich um ihren Hinterkopf und auf der anderen Schulter wieder nieder, so als würde dies ihm zusätzlich Halt geben.
Gerade als sie wieder ansetzen wollte etwas zu sagen, legten sich die Federspitzen jenes Flügels quer über ihren Mund, er schien seltsam beweglich zu sein.
“Nicht reden! Erst einen Weg wählen! Also geh los!”, krächzte er drauf los, direkt in ihr Ohr, seinen Kopf dafür extra etwas absenkend.
Avi’s Augen flogen wieder über die 4 dargebotenen Wege, sonderliche unterschiedliche Auswahlen hatte sie dort ja nicht, dass einzige was sich zwischen den Wegen wirklich unterschied war die Ausrichtung.
Nach kurzer Überlegung hob sich ihr rechter Fuß allmählich an, bereits den westlichsten der Wege ins Auge fassend.
Der Rabe folgte ihren Blicken, als würde er durch ihre Augen sehen können. “Los!”, drang es erneut vom Raben welcher dabei mit seinem Schnabel nach einer Haarsträhne Avi’s schnappte und wild mit jener vor ihren Augen herumwedelte.
Von ihm gehetzt dackelte sie dann auch schon schnellst möglich los, gen des Weges, die kleinen Trittbretter betretend, vorsichtig Schritt für Schritt jene beschreitend um nicht ausversehen dazwischen zu treten.
“Hör auf!”, wurde ihre Stimme dann zum ersten Mal lauter und deutlich energischer, genervter. Laut knallte der Schnabel als der Rabe einmal fest in die Haare biss, ehe er dann letztlich abließ und eingeschnappt den Kopf beiseite drehte. Die Schritte wurden dabei nicht langsamer, und so ging sie, sich aufmerksam umschauend, weiter.

Der Weg schien auch beim Betreten nicht besonderer zu werden, links und rechts das riesige Schilf und nach vorn der gebogene Weg, kein Ende in Aussicht habend.
Äußerst still war es dort in diesem Sumpf, kein Froschquaken, keine Grillengezirpe, nichts was man eigentlich in einem Sumpf an Geräuschen erwarten würde, nur ihre eigenen Schritte und der leichte Windzug welcher durch das Schilf und die Pflanzen sowie das Gefieder des Vogels streiften hinterließen leise Geräusche.

Nach einer ganzen Weile, der Sonnenstand schien sich dabei kaum oder gar nicht verändert zu haben als würde die Zeit still stehen, kamen sie an.
Wieder fand Avinia sich auf einer Lichtung, der Vogel zeigte keine Überraschung, als wär er hier schon Tausend mal gewesen. Nur wenig unterschied diese von der Vorherigen auf der sie war, kein Weg, außer der den sie soeben bezwungen hatten, führte von ihr weg.
Auf der rechten Seite fand sich wieder ein verkrüppelter Baum, exakt wie der andere.
Nur in der Mitte war etwas anders.
Ein kleines Podest stemmte sich dort etwa kniehoch in die Höhe, wie eine Art Blumenvase befand sich in der Mitte jenes Erde welche von der auch schon vorher gesehenen Baumrinde umrundet wurde und so in Position hielt.
Doch das Besonderste waren weder die seltsame eigentliche Identität zur vorherigen Lichtung, noch das kleine Podest, auch wenn es ein Bestandteil davon war. Aus der Erde sprießte eine Blume, eine perfekte Blume.
Ihr Stängel und die 2 identischen, symmetrischen Blätter waren grüner als alles andere in diesem Sumpf, am Ende des Stängels fanden sich 6 Blütenblätter, vier zur Seite gehende orange, und zwei spitz nach oben verlaufende eisblaue.
Ein leuchtender gläserner Schimmer legte sich dabei über die ganze Pflanze, als würde sie tatsächlich aus Glas bestehen.

Avinia hob langsam den Blick zum Raben an, welcher just in dem Moment sich von ihrer Schulter abdrückte, die Flügel ausbreitete und auf den einzig vorhandenen Baum flog, auf einem der Äste niederlassend.
Dann beäugte er sie wieder, diesmal bewegte sich beim Sprechen sogar sein Schnabel.
“Nimm sie dir, es ist deine.”, ertönte es relativ wohlwollend von ihm.
Zögerlich nickte sie, kaum merklich, und trat genauso zögerlich mit kleinen Schritten auf die Glasblume zu. Kurz vor dem Podest blickte sie ein letztes Mal versichernd zum Raben, welcher ihr darauf nur überschwenglich zunickte.
Dann fixierte sie wieder die Blume, mit ihren graublauen Augen, ihre rechte Hand streckte sich ihr zaghaft entgegen. Noch deutlich zurückhaltend und behutsam legte sie sich dann letztendlich um den Stängel der Blume, jenen vorsichtig mit ihren Fingerkuppen betastend.
Er wirkte kalt und äußerst glatt, so wie man es eben von Glas erwarten würde. Doch so filigran zerbrechlich wie sie anfänglich anmutete schien sie nicht zu sein, eher war es die Stabilität von Stahl, gepaart mit dem Aussehen Glases.
“Zieh sie raus.”, drang es wieder aus Richtung des Baumes, mit verhältnismäßig ruhiger Stimme.
Ihre Hand schloss sich darauf eine Spur fester um die Blume um sie dann vorsichtig von der Erde zu trennen. Sonderlich schwer viel es nicht, die Erde war halbwegs locker, und so musste sie nicht viel Kraft aufwenden um das andere Ende der Blume freizulegen.
Am anderen Ende, dort wo man eigentlich die Wurzel erwarten würde, fand sich ein weiteres gläsernes Gebilde mit seltsamer Farbe. Es hatte gar keine richtige Farbe, eher war es eine Sammlung Tausender Farben in einem einzelnen Stück Glas gefangen, jede für sich wild in jenem herumtänzelnd. Die Form war einer länglichen Scherbe gleich, irgendetwas erinnerte sie daran an eine Pfeilspitze, oder einem Messer, denn sie wirkte auch äußerst scharfkantig.
Ihr Blick hob sich wieder an, ein leichtes Lächeln bildete sich auf ihren Zügen, als sie dem Raben entgegenblickte. “Und die… darf ich behalten? Das ist… meine?”, fragte sie vorsichtig mit leisem Ton nach, während sich ihre Hand fester, aber für sie nicht spürbar, um die Blume schloss.
Der Rabe antwortete nicht und blickte ihr nur stumm entgegen, währenddessen sich ein spürbar warmer Blutstrom ihren Arm entlang den Weg zum Boden suchte.
Noch eine Weile schaute sie dem Raben entgegen, genau in seine Augen, eine Antwort erwartend, während sich das Blut unter ihren Füßen sammelte, rundum, im ganzen Sumpf so schien es. Sekunde für Sekunde stieg der Pegel bis er dann bis zu ihren Knien reichte und sie erstmals hinabblickte. Nichts zeichnete sich in ihrem Gesicht ab, keine Angst und kein Schmerz, gleichgültig schien sie vielmehr.
Immer weiter stieg der Pegel, zuerst zu ihrer Hüfte, dann zum Brustkorb, zum Kinn, und schließlich erreichte er ihren Kopf, überwandte jenen und stieg weiter, den Raben dabei mit sich untergehen lassend.
Ihre Augen blieben reglos offen stehen, die Blume weiterhin fest in der Hand umschlossen, die Füße hoben sich langsam vom Boden ab, sich keine Mühe zum Atmen oder zum Schwimmen gebend. Der Rabe hielt sich am Ast fest auf dem er saß, sich ebenso kein Stück bewegend, oder flüchten wollend.



So trieb Avinia in diesem Sumpf aus Blut, völlig reglos, mit ihrer Blume in der Hand.
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Scherbenwelt - von Avinia - 07.05.2015, 05:02
RE: Scherbenwelt - von Avinia - 09.05.2015, 05:21
RE: Scherbenwelt - von Avinia - 10.05.2015, 15:09
RE: Scherbenwelt - von Avinia - 01.06.2015, 04:40



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