Das Leben nach dem Tod auf Svesur
#3
Der Abend vor Ceílil. Die gesamte Sippe, einschließlich Aidan und seinen Söhnen, und einigen kleineren Nachbarfamilien versammelte sich zum Essen in der Wohnküche. Es waren so viele Leute, dass die langen Bänke nicht ausreichten, um allen Essensgästen Platz zu bieten. Und so waren es eher die Älteren, die es sich dort drinnen gemütlichen machten, um von alten Zeiten schwatzend ihr Gulasch oder Fisch, Brot und vor allem Wein in der vom Feuer unter dem gußeisernen Topf erhitzten Stube zu verzehren.

Draußen auf dem Hof brannte ein großes Lagerfeuer und ein Ochse drehte sich über der flammenden, fettzischenden Glut. Die jüngeren Familienmitglieder standen lachend, schwatzend umrund des Feuers und es würde nicht lange dauern, ehe einige Instrumente zum Vorschein kamen, deren lustige Melodien zum Tanzen auffordern würden. Zwischen den Beinen der Erwachsenen, unter Bänken und Stühlen kroch, rannte, tobte eine ganze Schwadron kleinerer Kinder. Sie alle hatten klebrige Finger und Münder von den kandierten Früchten, die sie sich massenweise in ihre kleinen Münder gestopft hatten und aufgedreht von so viel Süßkram verhielten sie sich wie toll. Aber es war der Vorabend von Ceílil und auch der strengste Vater war milde gestimmt durch gutes Essen, Alkohol und den bevorstehenden Feierlichkeiten.

Wenn man den Galatiern etwas nachsagen konnte, dann wohl, das sie es verstanden, zu feiern. Cahira war es zuweilen etwas zu wild und die ganzen Menschen - die meisten davon Familienmitglieder - die sie wohl kannten und ihr überschwänglich zur bevorstehenden Heirat mit einem so respektablen Mann wie dem Heiler Aidan gratulierten, ließen sie ein ums andere Mal erschauern. Auch Aidan, der sich bis jetzt an ihrer Seite gehalten hatte, einen Arm um ihre Schulter gelegt, die andere Hand um den sicheren Anker eines Weinkruges gekrampft, schien sich inmitten der für ihn ebenfalls Fremden nicht ganz wohl zu fühlen.

Aber mit Genugtuung sah sie Lionel inmitten der gerade vorbei lärmenden Kinderschar. Er war sonst ein eher ruhiges, folgsames Kind und hielt sich meist in der Nähe von Mutters Rockzipfel auf. Jetzt aber rannte der Vierjährige vor Freude kreischend Richtung Haus. Auch Aidans Blick, seltsam gierig, sehnsüchtig - aber das konnte auch ein Produkt des flackernden Feuers sein - verfolgte seinen zukünftigen Stiefsohn; als Cahira blinzelte war dieser Ausdruck auf dem Gesicht ihres Verlobten verschwunden und einer gequälten Grimasse gewichen, als er sah, wer da zielstrebig auf sie zuwatschelte: Tante Georgette, eine beleibte Witwe, die keinen Hehl darum machte, dass sie es bedauerte, nicht ein paar Jährchen jünger zu sein, um Aidan Cahira abspenstig zu machen.

Es tat ihr fast ein bisschen leid um ihn, als ihr Bruder Jovane sie ins Haus rief, weil Vater sein Hemd zerrissen hatte und sich nun weigerte, ein anderes von seinen Söhnen herausgesuchtes Hemd anziehen, da dieses nicht dem großartigem Anlass entsprach. Als Cahira in die Wohnküche trat, sass der alte Mann maulig mit enblösstem Oberkörper auf seinem Platz am Kopf der Tafel, sehr zu Belustigung der anderen Anwesenden. Wahrlich, ihr Vater benahm sich äußerst seltsam. Erst diese merkwürdige Vergeßlichkeit, das Gemurmel beim Einschlafen, nun das! Er war in der Regel ein freundlicher Geselle, der gerne plauderte und einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. Launenhaftigkeit gehörte nicht zu seinen üblichen Verhaltensweisen. Und wie, verflixt noch eines, hatte er es geschafft, seinem Hemd einen so üblen Riss zuzufügen, das es wohl nur noch als Putzlappen taugen würde?

Sie seuftze und machte sich zu Seáns Zimmer auf, welches er gerade mit drei älteren Gästen teilte. Eigentlich gab es an dem rausgesuchten Hemd nichts auszusetzen, es war frisch gewaschen, ohne Flicken, ordentlich, aber Cahira wühlte trotzdem in der am Fußende des Bettes stehenden Wäschetruhe umher, um ihren Vater ein anderes Gewand zu präsentieren. Sie förderte einige Hosen hervor, eine einzelne wollende Socke, achjah .. da war ja, was sie suchte. Sie zog am Ärmel und hatte nicht nur das gesuchte Stoffstück, sondern auch ein zusammen gelegtes Stück Pergament zu Tage gefördert, welches auf den Boden trudelte. Überraschungslaute murmelnd bückte sich die junge Frau, um sich das unerwartete Fundstück genau anzusehen.

Die Erkenntnis traf sie wie die Wucht einer Faust mitten ins Gesicht, sie keuchte und ließ sich rückwärts auf Vaters Bett fallen, welches protestierend ächzte. Ihre Augen, die sich ungewollt mit Tränen füllten, flogen über die Zeilen, die großzügige Schrift, das Siegel am Ende. Sie erkannte durch den Tränenschleier nur einzelne Wörter - ... Verlautbarung ... Tod durch den Strick ... hinterlistiger Mord ... Mendoza ... auszuführen am ... beschlossen am ... gesiegelt von ... - aber sie wusste ganz genau, was sie da in den Händen hielt. Die Trauer, die sie die ganze Zeit wie einen lästigen Dorn mit sich getragen hatte, bohrte ihren Stachel gnadenlos in ihre Gedärme; sie konnte nicht richtig atmen, schluckte hustend Rotz ihre brennende Kehle hinunter. Wozu hatte ihr Vater dieses verfluchte Stück Pergament nur aufbewahrt? Warum musste es ihr gerade heute in die Hände fallen, heute, am Vorabend von Ceílil, am Vorabend ihrer Heirat? Oh, Kyron.

Die Welt herum verblasste an Farbe und Geräuschen, es war ihr, als würde sie alleine in diesem Zimmer sitzen, alleine mit ihrer Trauer und der Erinnerung an ihren ersten Ehemann, dem Vater von Lionel. Sie wusste nicht, wie lange sie dort schon gesessen hatte, das Hemd für ihren Vater vollkommen vergessen, das Schreiben in ihrer Hand zerknüllt, der Blick starr nach vorne gerichtet, die Tränen auf ihren Wangen mittlerweile getrocknet. Jovane steckte seinen Kopf durch die Tür. „Cahira ...“ flehte er. „Du musst sofort kommen. Vater will nun auch seine Hose ausziehen, wenn er kein Hemd hat. Alles in Ordnung?“ Stirnrunzlend trat er dann doch ins Zimmer und betrachtete die junge Frau mit einem Anflug von Sorge. Jovane hatte diesen regungs- und gefühllosen Zustand schon einmal miterlebt, damals hatte er rund drei Monate gedauert, und auch danach war sie längst nicht wieder zu der lachenden, scherzenden kleine Schwester geworden, die er kannte.

Als ob diese sich vom Grund des Meeres an die Oberfläche kämpfen müsste, blinzelte diese, atmete mehrmals tief durch und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, während sie das Pergament in ihre Rocktasche stopfte. „Jaaaah.“ erwiderte sie zwar etwas lahm dennoch sehr zur Erleichterung des Mannes, der schon mit seinem Narretei treibenden Vater draußen überfordert gewesen ist. Was hätte er mit einer Schwester anfangen sollen, die aus welchen Gründen auch immer urplötzlich wieder in ihren alten Trauerzustand gefallen war. Er hätte es wohl Aidan gesagt, nein, er musste es ihm sogar sagen ... Aber einstweilen war Seán das Problem, das Gespräch mit Aidan würde er gleich im Anschluss führen. Oder erstmal einen Schlucken Wein trinken. Oder ein Stück Ochse essen ... Cahira erhob sich schwerfällig. „Dann wollen wir mal zurück in die Küche gehen ...“

Kaum das Cahira durch die Tür auf den Gang getreten war und der Aufgabe entgegensah, ihren Vater manierlich zu kleiden, hatte sie der Fluß des Lebens wieder. Singen, lachen, tanzen, Kindergeplärre, der Duft von angebratenem Fleisch, knarzende Dielenböden, schrille Stimmen, das Wiehern der Pferde, die es nicht gewohnt waren, einer solchen Lärmbarriere ausgesetzt zu sein, flackernder Feuerschein, milder Wind, der den lieblichen Geruch des Frühlings mit sich brachte, linderten den Schmerz der Trauer. Es war Fluch und Segen zugleich in einem Haus zu wohnen, welches auch zwischen den einzelnen Familienzusammenkünften 16 Menschen, bald 17 nach der Niederkunft von Jonathans Frau, beherbergte. Man war nie alleine, hatte immer etwas zu tun, keine Zeit, die Gedanken in trübe Gewässer gleiten zu lassen.

Später an diesem Abend entschied Cahira, die das festliche Treiben dann eher als Zaungast beobachtet und sich von ihrer Sippe wie auch von Aidan ferngehalten hatte, ihr Vater könnte die doppelte Dosis des beruhigendenTees vertragen. Und vielleicht trank sie auch gleich einen mit. Sie fühlte sich innerlich zerschunden und fürchtete, sie könne jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen. Außerdem musste sie um jeden Preis verhindern, dass ihr Vater mit runtergelassener Hose vor den Kleinkönig trat. Sie hatte die Kräuter schon aufgebraucht und musste das Rezept bemühen, welches Aidan aufgeschrieben hatte. Mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete sie den kühnen Linienschwung der Buchstaben. Die Großbuchstaben hatte alle so einen typischen Kringel, das „M“ besonders ausgeprägt.

... Melisse ...
... Mord ...
... Minze ...
... Mendoza ...


Sie fuhr mit der Hand in ihre andere Rocktasche und schlug die Verlautbarung zu Kyrons Hinrichtung auseinander. Das war doch ... unmöglich. Aber doch, sie sah es ja vor sich: Das Rezept von vor wenigen Tage, vor ihren Augen geschrieben, und die Bekanntmachung aus Amhran, mehr als zwei Jahre alt waren in der selben Handschrift verfasst!

Aidan?
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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RE: Zukunft - von Cahira Mendoza - 05.04.2015, 18:18
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