Schwarzer Vogel
#3
Sulis war sparsam mit ihrer Gunst an diesem Morgen. Die Sonne schien fahl, der Himmel war bedeckt von düsteren, grauen Wolkenfetzen. Im Druidenviertel regte sich nichts. Ob in den zahlreichen kleinen Höhlen der Raben schon jemand die Augen geöffnet hatte? Im Schülerhaus saß jemand, ein graues Wollstoffbündel. Auch dieser Jemand regte sich nicht, aber seine Belladonnaaugen waren groß ins scheinbare Nichts gerichtet und verloren sich in einer der Steinwände, aus denen das Schülerhaus gebaut worden war. Schon eine Weile lang verharrte besagter Jemand am Rand der Holzplattform, die vom Haus der Schüler in einen kleinen Teich führte. Er saß mit dem Rücken zur Wasseroberfläche. Die Decke sank auf die Schultern, das Stoffbündel entpuppte sich als Gwendolyn.

Hinter ihr träges Plätschern, vor ihr die dichte Stille eines Hauses, die nur in Steinhäusern so besonders gewichtig ist, zäh wie Sirup, schwer wie ein Alptraumdruck auf der Brust. Es hätte draußen kaum ruhiger sein können, aber in ihr peitschte eine Sturmflut gegen den Damm der Selbstkontrolle. Sie spürte jeden der neun Schläge, die auf ihren drahtigen Körper niedergegangen waren. Kein Fingerbreit ihrer Haut würde vergessen. Das Fleisch erinnert sich auf seine eigene Art, ganz ohne Zutun des Kopfes. Sie rief bessere Erinnerungen in sich wach, um der garstigen Konkurrenz zu machen. Ein Händedruck von Gotmar. Eldas Umarmung. Theresia, wie sie ihr stolz die Wange tätschelte. Ein Kuss auf der Handinnenfläche. Korens Hand in ihrem Nacken.

Sie hatte Viktor nicht mehr angesehen, nachdem er den Knüppel ergriffen hatte. Die rote Schlange musste ihm eingeredet haben, es selbst zu tun. Es war klüger, ihn nicht anzuschauen, nicht nur, weil sie ihren Stolz bewahren wollte. Hätte sie ihm in die Augen gesehen, wäre die Beherrschtheit nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen. Dann hätte die Schlange Lisbeth sie doch noch in den Kerker werfen lassen können. Da hätte auch das Wort eines Ritters nicht mehr ausgereicht.

Die Druidenschülerin ließ die graue Decke von den Schultern sinken, in die sie sich eingewickelt hatte. Sie zwang sich zur Langsamkeit, zur Stille, zur Ruhe. Nur noch ein bisschen, bevor sie nachschaute, prüfte. Im Jurensitz ruhend, zog sie den Stoff über die bloßen Beine, hob den Kopf an, schloss die Augen und presste die Hände auf das raue Holz. Sie fühlte sich wachsen, sie streckte sich durch. Sie stellte sich vor, wie Galates hinter ihr stand, ihren Kopf stützte und ihr stumm half, gerade zu bleiben und aufrecht. Wie Sulis‘ Gruß ihr Kraft einflößte. Fast meinte sie, ihre wärmenden Sonnenstrahlen am Rücken zu spüren. Doch ihre Augen blieben sanft geschlossen, es reichte ihr völlig, die Anwesenheit der Göttin zu fühlen. Sie brauchte keinen Beweis. Taranis würde einen Windstoß schicken, der ihren Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt forttrug. Sie beschwor ein Bild von Anu herauf, die ihr über die Wange streichelte, die Anspannung von ihrem Gesicht wischte.

Die Oberschenkel schmerzten schon von der Anstrengung, die die Muskeln nicht gewohnt waren, aber das machte nichts. Ihr Rücken war stark und ungebeugt. Niemand würde das ändern. Kein Mensch. Sie unterwarf sich nur den Göttern, und ihnen alleine. Die Fingernägel schabten über das ausgebleichte Holz. Sie drückte die Knie gegen den Boden. Es war wichtig, sich selber zu spüren. Sie hatte die Kontrolle, daran änderte kein Knüppel etwas. Dann löste sie die Haltung, ließ die Knie fallen, wohin sie wollten und wartete, bis die Muskeln sich entspannten.

Nun war sie bereit für einen Blick.

Entschlossen drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite und betrachtete das Spiegelbild ihres Rückens in dem stillen Teich. Keine blauen Flecken, kein Indiz der Gewalt mehr, die ihn zuvor gezeichnet hatten. Die Wunden der letzten Nacht waren verheilt, kraft der Macht der Götter. Vishayas Hände hatten ihr heilsames Werk auf Gwendolyns Rücken vollzogen. Mit freiem Auge konnte sie nichts ausmachen. Nicht die kleinste Verfärbung. Der Blick verlor sich lediglich irgendwo zwischen den Sommersprossennestern und den Blutspuren auf der blassen Haut. Die Gabe musste förmlich sprudeln in der Seele ihrer mächtigen, jurischen Meisterin. Nur das Blut hatte sie Vishaya nicht abwischen lassen. Das gehörte ihr. Es war auf ihrem Rücken eingetrocknet und zog hässliche, unregelmäßige Muster. Und sie würde es einzusetzen wissen.

Der Teich lag dunkel und unbewegt vor dem Haus der Schüler. Ein natürlich geformtes Becken. Eine Zuflucht. Wenn sie an den Schoß des Rabenkreises dachte, dann war es nicht der imposante, uralte Steinkreis oben, nicht der Blutstein mit den fein eingemeißelten Linien, nicht die Zirkelhalle, die als Bild hervortraten. Es war dieses unergründliche Gewässer. Das hier musste der Schoß der Erde sein, wo Cranus herrschte, aber Anus Wirken spürbar war, wenn man es schaffte, zum Grund des Gewässers zu tauchen. Sie fand es nicht seltsam, ausgerechnet hier den größten Trost zu empfinden. Im Wasser der Mütter wuchsen die Menschen zu Wesen. Im Wasser fühlten sie sich heimisch und umsorgt – und am Leben.

Sie warf die Decke ganz ab und stand kontrolliert auf. Dieser Morgen gehörte ihr und ihren Göttern ganz allein. Der Herbst hatte Einzug gehalten, die ersten Blätter dümpelten auf der spiegelglatten Oberfläche, die zu stören sie im Begriff war. Das Weinfest stand bevor. Es war klirrend kalt, zu kalt für ein Bad. Das nahm sie hin. Sie war zu erfüllt von der Stimmung des Ortes, dem Rauschen in ihrem Kopf, um darauf zu achten. War das der Weg zum göttlichen Rausch, von dem ihre Meisterin gesprochen hatte? Vishayas Worte, Stunden vor der Bestrafung ausgesprochen, waren zu einer Prophezeiung geworden: „Sich den Göttern geben ist das größte Geschenk, das man ihnen machen kann.“

„Ihr habt mir Kraft gegeben. Ich gebe euch mein Blut.“ Das war für das Pantheon.

Die Worte waren schlicht, aber sie brauchte sie nicht weiter verzieren. Jedes davon war an seinem Platz. Ihre Götter kannten die Antwort, die Viktor begehrt hatte. Alle Antworten. „Warum, Gwendolyn?“ Weil die rote Schlange den Glauben beleidigt hatte, der Gwendolyn hell und rauschhaft erfüllte. Weil sie es nicht hinnehmen konnte, wie die Priester ihre unselige Macht demonstrierten. Weil sie lieber ihre Stockschläge in Kauf nahm, als zu katzbuckeln. „Dass Ihr, abyssverflucht, nicht in der Lage seid, zu lernen!“ Ich lerne, Vetter. Ich lerne, an der Gabe zu wachsen. Ich spüre sie größer werden. Doch davon ahnst du nichts in deiner Blindheit. Du hast verlernt, hinzusehen. Du willst nur die Ordnung sehen und stößt dich an jeder Kleinigkeit. Auf der Suche nach blasphemischem Tun tastest du dich durch die Welt wie ein Blinder, der nicht zu deuten weiß, was andere klar sehen.

Die Fäuste geballt, brüllte sie die lange aufgestaute Wut gegen die moosbedeckten Steine, fühlte sich erlöster, streckte sich und sprang. Das war für sie.

Die Kälte schoss ihr wie Eispfeile durch die Glieder, als die Fingerspitzen ins Wasser glitten und sie eintauchte. Ihre Ohren pochten, als das eiskalte Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Es war zu dunkel, um viel zu sehen. Sie merkte, wie das verkrustete Blut am Rücken sich auflöste. Das war ihr Element. Ihr Morgen.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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Untergang - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 26.09.2015, 16:40



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