Das Lied der Klinge
#16
Die süße Näscherei,
Ein lieblich Mündleinkuß
macht zwar niemanden fett,
Stillt aber viel Verdruß.

Hoffnung ist ein fester Stab
Und Geduld ein Reisekleid,
Da man mit durch Welt und Grab
Wandert in die Ewigkeit.

Weißt du, was in dieser Welt
Mir am besten wohlgefällt?
Daß die Zeit sich selbst verzehret
Und die Welt nicht ewig währet.


- Friedrich Freiherr von Logau (1604 - 1655)

~*~


Der nächste Morgen fand Kyron in einem Zustand der abgestumpften Verstörung am imposanten Küchentisch sitzend wieder. Mit einem Ausdruck beginnender Kopfschmerzen auf der konzentriert-verkrampften Miene hob er eine Hand, und deutete einmal mehr durch die Runde der - im Gegensatz zum Ausdruck des Stiefvaters - fröhlichen, neugierigen Mienen. "Also, noch einmal. Jovane, Anorah, Riona, Conlec,..." Falten der Mühe bildeten sich auf seiner Stirn, während der Finger über dem Kopf eines vielleicht zehn Jahre alten Jungen schwebte, der ihn breit und gnadenlos angrinste. "... äh," machte Kyron verzweifelt, und brummte dann ein wenig ungeduldig, "Kieran?"
"Kiernan!" sagte der Junge in vollem Triumph jemandes, der etwas besser wusste als ein Erwachsener, und fuhr mit seinem Brotbrocken durch die salzige Butter mitten auf dem Tisch.
Kyron seufzte und senkte die Hand, ohne sich um die drei anderen Personen am Tisch zu bemühen. Er würde sich die Namen ja doch nicht alle merken, nicht in der kurzen Zeit die er hier bleiben wollte. Sich dafür zu entschuldigen wäre müßig gewesen, immerhin tat es ihm nur bedingt leid. Cahiras Brüder Jonathan und Jovane und deren zwei Frauen würde er sich noch merken können, immerhin waren diese in seiner Wahrnehmung enorm wichtig für sein Wohlbefinden, aber der Rest der Familie war so groß und so ausschweifend, dass es unmöglich schien sich alle Namen zu merken.
Jovane schien seine Zwickmühle nur allzu gut zu verstehen, und setzte zwischen den Bissen von seinem Schinkenstück zu einem breiten Grinsen an. "Du willst also rüber zu Aidans Haus? Was willst du dort denn? Ist doch nur noch Asche," gab er zu bedenken, mildes Interesse an dem schrulligen Verhalten des Amhraners zeigend, der selbst am Küchentisch noch gerüstet und bewaffnet Platz nahm, wie einer dieser Wilden aus dem Süden.
Kyron hatte schon bei den ersten Worten die sie getauscht hatten festgestellt, dass Cahira etwas zu rücksichtsvoll mit der Schilderung des vollen Ausmaßes der Geschehnisse gewesen war. Einerseits verstand er ihren Gedankengang - Aidan war tot in ihren Augen, also gab es keinen Grund seinen Ruf zu beschmutzen -, aber andererseits machte es ihm die Angelegenheit schwer. Was konnte er sagen, was durfte er sagen, und vor allem, würden Cahiras Verwandte ihm überhaupt glauben, wo sie doch nichts von den Schrecken erzählt hatte?
Schließlich entschloss Kyron sich dazu, einfach die Teile der Wahrheit zu sagen, die er für absolut notwendig hielt. "Ich weiß nicht wieviel Cahira euch erzählt hat, aber Aidan und sie hatten einen sehr schlimmen Streit kurz bevor er starb, in dem er meinen Sohn bedroht hat," erklärte er bedächtig, und schmierte eine dicke Schicht der salzigen Butter auf seine großzügig geschnittene Brotscheibe. "Sie sagte auch, dass seine Überreste nicht gesucht wurden, also möchte ich sicher gehen dass er tot ist."
Dass er Lionel in zwei von drei Fällen mitnehmen würde, und insgeheim Cahiras Familie mit der potenziellen Bedrohung eines gewissenlosen Magiers - Hexers vielleicht gar! - alleine lassen würde, behielt er für sich. Sie schienen zahlenmässig eine eigene Garnison füllen zu können, und waren vergleichsweise sicher gegen das milde Interesse jemandes, der hinter einer einzelnen Person her war.
Jovane schien trotz allem beeindruckt von soviel Einsatz, und murmelte eher halblaut: "Du bist so weit gereist, nur um eine Leiche zu suchen? Da schau einer mal an." Ein Moment der Stille kehrte ein, nur gefüllt mit den nachdenklichen, verwirrten und hilfsbereiten Blicken, die die Familienmitglieder austauschten, dann sagte Anorah, Jonathans Frau, abwägend, "Du könntest ihn dorthin bringen, und sehen dass er sich nicht verirrt."
Es schien allgemeiner Konsens, dass Kyron trotz seiner Heirat zu Cahira immer noch ein hoffnungsloser Amhraner blieb, der in der Wildnis bestenfalls versuchen würde, auf die nächste Kutsche zu warten wenn er sich verirrte. Es stand in die Gesichter der Familie geschrieben, dass sie ihn nicht ganz für voll nahmen, andererseits aber auch ihr Bestes tun würden, dass er heil wieder daheim ankam, und Kyron befand dies für ausreichend für seine Zwecke. Welchen Sinn hätte es auch gemacht, ihnen vorzuhalten, um wieviel trostloser und ungezähmter seine Heimat Hohenmarschen war? Es hätte keine Vorteile gebracht, und sie höchstens verstimmt.
Jovane schien nicht unbedingt unglücklich über den Vorschlag. "Dann muss allerdings jemand anders das Heu wenden gehen," gab er mit schlecht gespieltem Genuss zu bedenken, und erhob sich vom Tisch um Proviant für eine kleine Zwischenmahlzeit zusammen zu suchen. Anorah nahm sein Spiel mit einem kopfschüttelnden Auflachen hin und hob die Schultern. "Kiernan hat sich lange genug beschwert, dass er keine wirklich wichtigen, verantwortungsvollen Arbeiten bekommt," schloß sie sich dem Spiel an, was einen prompten, lautstarken Protest des Jungen auslöste.
Momente später war die gesamte Großfamilie in das Geschrei involviert, und wäre da nicht das häufige Auflachen und die fröhlichen Mienen gewesen, Kyron hätte soviel Lärm als Grund zur Sorge genommen, dass demnächst eine handfeste Keilerei ausbrechen würde.
So aber floh er schlicht vor die Türe und atmete die kalte Morgenluft mit tiefen Atemzügen ein. Wie konnte man soviele so intensive Menschen für mehrere Tage erdulden? Er würde Cahira befragen müssen, sie schien es geschafft zu haben.
Ein Tabakröllchen später gesellte auch Jovane sich hinaus, begleitet vom Johlen der Hausbewohner. Seine Miene zeigte beim Anblick Kyrons ein gewisse fröhliches Mitleid. "'S ist schon was anderes, so eine galatische Familie, eh?" erwähnte er grinsend und hob eine Hand um den Krieger mit sich zu winken. "Komm, brechen wir auf bevor Kiernan dem Streit da drinnen entkommen und mit uns flüchten kann, am Ende muss ich noch das Heu wenden bevor wir los gehen," schlug er überaus belustigt vor und schlug einen Weg ein, der sie in einem Winkel in Richtung des verbrannten Schreins führte.
Eine halbe Stunde und eine Butterstulle später wühlte Kyron durch die verkohlten Überreste eines weiteren abgebrannten Hauses, während Jovane im Gras vor dem ehemaligen Eingang saß und ihm zusah. Gläser, Lederfetzen, Möbelstücke und ein paar Bronze- und Silberbrocken, die irgendwann vermutlich einmal Werkzeug, Schüsseln oder Schmuckstücke gewesen waren, lagen verstreut in der Asche und erinnerten mit kalter Gleichgültigkeit daran, was passiert wäre wenn ein lebendes Wesen in dieser Flammenbrunst gestanden wäre. Wie Cahira entkommen war schien Kyron schleierhaft, aber die Gewissheit dass auch andere entkommen waren, legte sich wie ein zunehmend schweres Gewicht um sein Herz. Es konnte natürlich sein dass das Feuer zu heiß gewesen war, dass Aidan völlig verbrannt worden war, aber die Lederreste sprachen dagegen. Bevor Knochen gänzlich verbrannten, war Leder schon lange Asche, und solange das Eine noch da war, musste auch das Andere zu finden sein.
Außer natürlich wenn da keine Knochen zu finden waren.
Kyrons Wangenmuskel zuckte, einem nervösen Tic folgend den er lange nicht mehr verspürt hatte, und seine Miene musste dabei einen Ausdruck zeigen der Jovane nicht behagte. "Was ist? Was ist passiert?" fragte er nervös und erhob sich aus dem Gras.
Kurz biss Kyron die Zähne aufeinander, fieberhaft überlegend was als nächstes zu tun sei. Dann setzte er sich mit einem Ruck in Bewegung, zügiger als zuvor zurück zum Dorf stapfend, begleitet vom stetigen Klirren der Wehr.
"Aidan ist nicht in diesem Feuer gestorben."
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 13:44
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 16:10
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 08.03.2015, 23:36
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 12.03.2015, 14:19
RE: Das Lied der Klinge - von Kordian - 18.03.2015, 18:21
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 22.03.2015, 23:14
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 04.04.2015, 01:58
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 08.04.2015, 16:10
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 13.04.2015, 20:14
RE: Das Lied der Klinge - von Kordian - 15.04.2015, 22:40
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 17.04.2015, 00:05
RE: Das Lied der Klinge - von Cois Mártainn - 17.04.2015, 02:58
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 17.04.2015, 15:24
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 19.04.2015, 01:19
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 23.04.2015, 03:53
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 05.06.2015, 23:56
RE: Das Lied der Klinge - von Cois Mártainn - 29.06.2015, 04:16
RE: Das Lied der Klinge - von Cois Mártainn - 26.09.2015, 00:51
RE: Das Lied der Klinge - von Cois Mártainn - 22.12.2016, 12:35



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste