Das Lied der Klinge
#15
Ich sehe hinter dem Grau heute Blau
Und bin milder geworden.
Ich bin nicht mehr der junge Radau
Und wehe nicht mehr aus Norden.

Es kommen die Jüngsten auch mal dahin,
Wenn sie streng Zauderndes wagen
Und fragen nach jedem »Wie ist ...?« dann: »Wie bin ...?«
Und werden still Danke sagen.


- Joachim Ringelnatz (1883 - 1934)

~*~

Kyron beobachtete in einer Art hysterischen Starre wie Shem, sein Schwiegervater und langzeitige, familiäre Nemesis, seine Fackel fallen ließ, die gut hundert Schritt vom Waldrand bis zu ihnen in einer Windeseile hinter sich brachte die Kyron ihm niemals zugetraut hätte, und aus dem Zwielicht gestürzt kam. Dem Krieger schenkte der alte, sonst so gemütliche Mann keine Beachtung, und Liam erhielt ebenso keinen zweiten Blick. All seine Aufmerksamkeit galt dem Knirps, den er nun mit einem trockenen, erleichterten Aufschluchzen an sich drückte, und teils schimpfend, teils frohlockend beschwatzte.
Kyron hörte die Worte nicht, sein schwerer, starrer Herzschlag war zu laut, zu einnehmend. Auch die Zeit konnte er nicht mehr einschätzen, denn die Welt schien sich wie durch zähe Melasse zu schieben, langsam und doch so unaufhaltsam. Nur ein Ruck an der Trage hielt ihn davon ab, die Griffe aus der Hand gleiten zu lassen, während er Shem anstarrte, und seinen... Sohn. Der Knirps war sein Sohn. Er hatte seinen Sohn gerettet, ohne es zu wissen.
Shem sah auf, beide Arme am Jungen, eine sein Haar streichelnd, die andere dazu nutzend um ihn an die Brust gedrückt zu halten damit er nicht fortlief. Nicht, dass Lionel noch munter genug war sich davon zu machen, nun wo er in den Armen seines Großvaters war, schien er bereit, auf dem Fleck einzuschlafen, die kleinen Fäustchen fest an Bart und Überwurf gekrallt. Shems Augen fanden und erkannten Kyron, und ein erschrockener, missbilligender, dann dankbarer Ausdruck huschte über die faltige, sonnengezeichnete Miene. Er schien mehr als überrascht seinen Schwiegersohn zu sehen, regelrecht schockiert, aber alle Missgunst konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kyron den verlorenen Enkel heimgebracht hatte.
Liam, der trotz seiner schrulligen Fischerart sehr wohl ein Gefühl für die plötzlich aufziehende Gewitterfront zu haben schien, gab der Trage einen leichten Schub um Kyrons Aufmerksamkeit zu erregen, und brummte: "Komm, bringen wir ihn zum Heiler bevor meine Arme bis zum Boden reichen. Ich bin zu alt für sowas."
Es blieb keine andere Wahl. Kyron wollte etwas sagen, aber der Schreck saß noch zu tief, und er öffnete und schloss den Mund einmal, dann wandte er den Blick mit ausdrucksloser Miene ab und trottete den rutschigen Hang weiter hinab. Früher, wenn er sich aufgeregt hatte, war die mörderische Raserei sein Weg gewesen, damit umzugehen. Wenn man alles kaputt schlug was Angst auslöste, musste man keine Angst mehr haben. Wann hatte er diesen Weg aufgegeben? Während die Trage mit den zwei Trägern und dem Verletzten zwischen ihnen durch das hölzerne Dorftor schaukelte, runzelte Kyron mit ansonsten nichtssagendem Ausdruck die Stirn. Lange war der Moment noch nicht her, und manches Mal geriet er noch an Situationen, die ihn nahe an den Wutausbruch brachten, aber er war definitiv... beherrschter geworden seit dem Gefängnis.
Shem trottete hinter ihnen her, Lionel weiter in den Armen haltend, während der Junge bereits halb zu schlafen schien, erneut unbesorgt in der Präsenz des Alten. Es war das Vorrecht der Kinder zu glauben, dass ein einziger Mann alles Böse und alle Gefahr durch schiere Präsenz abhalten konnte.
Der Anblick sandte stechende Schmerzen durch Kyrons rechte Hand. Lüge über Lüge, und eines Tages wird er das wissen.
Das Dorf war mehr eine Siedlung, bestehend aus einem großen Versammlungshaus das auf der rechten Seite eines kleinen, unebenen Erdplatzes mit überdachtem Brunnen lungerte wie ein ausnüchternder Stallknecht, einem zweistöckigen Herbergsgebäude, das in gegensätzlichem Desinteresse an der Palisade links lehnte, und vier oder fünf weiteren, kleineren Häusern, die den Ring vollendeten. Die Sonne war fast vollständig hinter dem Horizont verschwunden, und der nahe Wald tat seinen Teil dazu, die Siedlung in zunehmende Finsternis zu tauchen, die nur von den schwer blakenden Fackeln durchbrochen wurde.
"Wo finden wir den Heiler?" fragte Liam mit gepresster, angestrengter Stimme zurück zu Shem, hörbar beeilt damit, die schwere Fracht loszuwerden. "Der Heiler ist tot," antworteten Kyron und Shem unisono, nur um dann einen kurzen, bedeutungsschweren und wenig freundlichen Blickaustausch zu halten.
"Das stimmt," bestätigte Shem schließlich mit Ingrimm, und löste einen Arm kurz von seiner dösenden Fracht um zu dem kleinen Haus links vom Versammlungshaus zu deuten, das sich im Schatten eines knorrigen, großen Nussbaumes versteckte. "Aber das Haus der Hebamme ist dort drüben, und sie ist die nächstbeste Heilerin, die wir haben. Morgen können wir einen Läufer an die Küste schicken, damit jemand mit mehr Fähigkeiten kommt."
Mit einem grimmigen Nicken setzte sich der kleine Konvoi wieder in Bewegung. Während Shem an die Türe klopfte und dann mit der runden, kleinen, alten Frau hinter der windschiefen Tür Zwiesprache hielt, versuchte Kyron das stetig zunehmende Gewicht seiner Fracht zu ignorieren. Man konnte sagen was man wollte, spätestens nach drei Stunden des Schleppens mochten selbst dem versiertesten Krieger die Arme lahm werden. Die Aussicht darauf, bald entspannen zu können, tat ihr Übriges, und als die runde, fröhlich aussehende Frau endlich die Türe weit öffnete, und nicht nur einen seltsam verlegenen Shem, sondern auch die zwei Träger und ihre Bahre ins Haus winkte, atmete Kyron mit einem leisen Dankesgebet an die Götter auf.
Es war Liam, der Kyron zu einem kleinen, grob gezimmerten aber von Jahrzehnten gezeichneten Tisch nahe dem Eingang trieb, während Shem einige Momente bei der Hebamme herum schwirrte, und den Eindruck von hilfsbereiter Nutzlosigkeit erweckte. Beide Männer ließen sich mit einem erleichterten Ächzen auf die Sitze fallen, wo Kyron sich aus dem Gepäck schälte und für einige Momente in simplem Glück die Augen schloss. Das erste Mal seit dem frühen Morgen konnte er sitzen, musste nicht schleppen, nicht laufen und nicht Ausschau nach Gefahren halten. Es fühlte sich einfach himmlisch an.
Liam schien die Angelegenheit ähnlich zu sehen. Erst nach einem tiefen Seufzen lehnte er sich vor, fasste Kyron ins Auge und brummte halblaut: "Also, ich will mich ja nicht einmischen, aber es erfreut die Götter nicht, wenn man den unwillkommenen Gast spielt." Passend zu den Worten rieb er sich den Nacken abschätzig, musterte den müden, immer noch gerüsteten Krieger prüfend, und lehnte sich schließlich wieder bequem zurück. "Du musst etwas sehr Wichtiges hier zu tun haben, dass du den Ärger von Nodons, Anu und Sulis auf einmal riskierst."
Es war eine durchaus kreative Form der Nachfrage, soviel musste Kyron dem Fischer anrechnen. Andererseits aber war er zu müde und zu angespannt, um Geduld für derlei Wortspiele aufzubringen, also deutete er nur zurück zu Shem und seiner Fracht, und erklärte knapp, "Das dort ist mein Schwiegervater, und der Junge ist mein Sohn." Kurz, knapp, bündig, und vermutlich unangemessen trocken. Kyron hob einen Moment lang die Mundwinkel, aber selbst für Amüsement über sich selbst reichte seine Energie nicht lange.
Liam schien verblüfft, verwirrt und ein kleinwenig verärgert, aber bevor er etwas erwidern konnte kam Shem zurück an den Tisch. Ein weiterer langer Moment des wenig freundlichen Starrens legte sich über die kleine Gesellschaft, dann hob Shem unwillig einen Wangenmuskel.
"Liam, du kannst ein Zimmer in der Herberge haben, lass es einfach auf meinen Namen schreiben. Und du, Kyron, kommst mit zu mir." Zwei Herzschläge der Stille folgten, dann wandte Shem fast beschämt den Blick ab und stapfte zur Türe. "Wir haben viel zu bereden, morgen."
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 13:44
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