Das Lied der Klinge
#11
Wir trinken Schmerz und Seligkeit
Aus einem Erzpokale,
Wir tragen Stolz auf unser Leid
Und leeren die ganze Schale.
Der Sieg ist Pflicht. Sonst schert uns nichts,
Der Krieg weiß nichts vom Sterben,
Wir wissen uns Hüter und Kämpfer des Lichts
Und kennen unsere Erben.


- Walter Flex, 1914

~*~

Mit ausdrucksloser Nachdenklichkeit auf der blassen Miene betrachtete Kyron die vulkansteinartigen, kugeligen Felsen, die im Gezeitenbereich des Kiesstrandes ruhten. Sowohl küstenaufwärts als auch küstenabwärts erstreckte sich der breite, helle und leere Strand über Werst hinweg zwischen den kalkigen, grasbedeckten Klippen und dem sprudelnden Meer. Nichts wies darauf hin, woher die seltsamen, porösen Felsen gekommen sein mochten.
"Die haben die Wasserschrate gerollt," erklärte ihm der Fischermann, den er mit einigen hübschen Amhraner Münzen dazu überreden hatte können, ihn nach Svesur über zu stellen, und bis zur ersten Siedlung zu begleiten. "Die fasst ihr besser nicht an, darin brüten ihre Jungen."
Für einige Momente noch betrachtete Kyron die seltsamen, schäfchenhaften Gruppierungen, dann wandte er sich mit einem Nicken ab, und folgte dem graumelierten, lederhäutigen Mann gen' Landesinneres. Die scharfe, frostige Seeluft zerrte hart an seiner mitgenommenen Kleidung, und die feinen Salzkörner in den Windströmen bissen schmerzhaft in seine Haut, aber weder die Kälte, noch der Zwang gegen den Sturm zu schreien, noch das Salz konnten die euphorisierende Wirkung des Anblicks von freier, rauher See abdämpfen.
Das erste Mal seit Kyron das Handelsschiff nach Galatia betreten hatte, konnte er tief durchatmen und lächeln. Es war ein fahles, abschätziges Lächeln, das wohl, aber die fürchterliche, lähmende Seekrankheit losgeworden zu sein war zumindest den Ansatz eines glücklichen Ausdrucks wert.
"Wie weit ist es bis zur nächsten Siedlung, Liam?" fragte er, während beide Männer sich durch den nachgiebigen, knarzenden Untergrund kämpften, begleitet vom stetig fauligen Geruch des Verfalls. Theoretisch stand die Sonne hoch am Himmel, aber die grünen Inseln schienen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit beschämt in Wolken zu verstecken, die ganze Küstenstriche in suppendicken Nebel hüllten. Außer natürlich es regnete, aber selbst der Regen schien hier von überaus missmutigem Temperament zu sein.
"Meh," machte der Alte, ein Laut den Kyron bereits ob seiner schieren Vielfalt an Bedeutungen zu schätzen gelernt hatte, "vielleicht zwei, drei Stunden? Es gibt zwar ein Fischerdorf nicht weit von hier, aber das sind MacNáimhs, die haben einen Blutzwist mit den Leuten die ihr sucht."
Kyron nickte vor sich hin. Er hatte natürlich keine Ahnung, was nun ein Blutzwist genau bedeuten sollte, aber das Wort alleine suggerierte, dass es eine tiefere Beschäftigung nicht wert war. Krieg und Zwist waren Dinge, die er gut verstand, und die schiere Ahnung davon, dass er Shem - nein, wie hatte Cahira gesagt, Séan - dort nicht finden würde, war ihm genug der Auskunft.
Trotz des mühevollen Untergrunds legten beide Männer einen flotten Gang ein, während sie auf eine keilartige Ausbuchtung in den Klippen zuhielten. Die steilen Felswände waren bedeckt von Schwärmen von kreischenden, zankenden Vögeln, manche davon mit Schnäbeln ausgestattet, die groß genug wirkten um ein kleines Kind zu schlucken, und je näher sie kamen, umso höher schienen sie aufzuragen. Als sie schließlich endlich das geöffnete Maul der Klippen durchquerten - ein gigantischer Riss, der die Kalkwände wie mit der Axt entzwei schlug -, verschlangen die grasbepelzten Gipfel der Seitenwände die Sonne, und hinterließen nichts als erstaunlich kühles, überaus zugiges Zwielicht, durch das Krabben und seltsame, schlangenartige Wesen krochen, um ihren Stiefeln zu entkommen.
Der Boden indes wurde fester, feinsandiger, und erlaubte es endlich, einen ordentlichen Marsch vorzulegen.
Es war nicht einfach gewesen, nach Svesur zu kommen. Irgendein Feiertag oder Streit oder Treffen schien im Hafen von Suelta vorzugehen, und was immer es war hatte die Dockgebühren auf eine Weise in die Höhe getrieben, die selbst gestandene Galatier auflachen ließ. Kein einziger der üblichen Fährmänner war bereit gewesen, Kyron für eine humane Summe von Kornur aus dorthin zu bringen. Anlegen außerhalb des Hafens war verboten, wie er nach einigem Herumfragen ebenfalls herausfinden musste... Was jedoch nicht verboten war, war das Abfangen eines Svesurer Fischermanns, der zurück in die Heimat segeln wollte. So hatte Kyron auch Liam ausfindig gemacht, und mit ein paar Krügen Ale in der Hafenkneipe für seine Sache erweicht.
Liam war ein guter Mann, wenn auch ein wenig schrullig. Den steinigen Strand mochte sonst kaum ein junger Seefahrer ansteuern, hieß es doch dass Ebbe und Flut sich dort gar zu häufig gegen den Willen der Götter stellten, und zänkisch zur selben Tageszeit mal hoch und mal tief standen, doch Liam zählte nicht zu ihnen. Knapp eine Seemeile vor dem Strand hatte er sich an den Bug seines kleinen Fischerboots gelegt, bis seine Nasenspitze fast das Wasser berührt hatte, und war eine Stunde so verharrt, die Augen tief unter die spiegelnde Oberfläche richtend. Er müsse den Fischen zuhören, hatte er erklärt, denn diese wüssten, wie die Laune von Mutter Meer heute denn sei, und könnten ihm sagen wann die Zeit für ein Aufstranden die richtige sei.
Kyron indes hatte zu dieser Information nur genickt, und keine Worte darüber verloren. Mochte Liam mit den Seeteufeln selbst eine Lagebesprechung halten, sofern es half war Kyron der Letzte, der sich darüber mokieren mochte.

Der Pfad stieg steil und steiler an, vereinfacht nur durch die Äonen alten Felsblöcke, die sich mit Sand, Erde und Schwemmholz überdeckt hatten, und nun etwas wie überaus grob behauene, ungerade Treppenstufen bildeten. Als sie jedoch endlich den Kopf über die Kante der Klippen recken konnten, und Kyron die wogenden Wipfel eines fernen Waldes und die davor sanft auf und ab schwingenden Hügel von Weideland sehen konnte, da verstand er endlich was Shem, Séan hierher gezogen hatte. Verregnet mochten die tristen Inseln vielleicht sein, aber dafür umso atemberaubender.
Liam sah zu Kyron zurück, musterte dessen Miene mit etwas wie patriotischer Zufriedenheit in der Miene, und sprach eine seiner typischen rhetorischen Fragen: "Hübsch, nich'? Ist eine feine Dame, Mütterchen Svesur."
Kyron nickte und schmunzelte auf. "Das ist sie, wohl wahr."
Dann jedoch fing etwas seine Aufmerksamkeit, und er runzelte die Stirn. Der Wind mochte es zwar schwerer als gewohnt machen, manche Zeichen am Horizont zu erkennen, aber in diesem Falle war er sich doch sehr sicher. Mit einem gehobenen Arm wies er gen' des linken Ausläufers des weit entfernten Waldes, auf eine Stelle wo ein dutzend dickwolliger Schafe in eifriger Panik davon stoben, während ein dünner, vom Wind verrissener Rauchfaden aus einer Mulde zwischen zwei Hügeln aufstieg.
"Liam, ist dort das Dorf? Sieht mir nach einem ziemlich großen Feuer aus." sagte er, und warf einen Blick zu seinem Begleiter.
Liam war kalkblass, die Augen auf die punkthaften Schafe und den Rauch fixiert. "Nein... dort ist das Heiligtum Fauns, dort sollte gar kein großes Feuer sein."

Der Alte tat zwei erschütterte Schritte vorwärts, und sein Atem begann zu rasen. "Das Heiligtum brennt!"
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 13:44
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