Das Lied der Klinge
#2
Geschichte wird von Siegern geschrieben. Es ist weniger der Drang nach Verfälschung dessen, was geschah, als eher die schlichte Wahrheit, dass ein Mensch nur schreiben kann, was er selbst weiß. Stärker noch wird dieses Ungleichgewicht dort, wo der Adel gegen den Pöbel kämpft, und die Mittel der Gelehrten, also Tinte, Feder und die Fähigkeit sie zu benutzen, nur einer Seite zur Verfügung steht.
Kaum ein Bauernaufstand findet jemals seine Erwähnung in den Annalen eines Lehens, denn um eine so alltägliche Angelegenheit einer Niederschrift wert zu befinden, muss schon ein großes Unglück geschehen. Zumeist will ein Lehensherr vermeiden, dass solcherlei banale Dinge wie der Aufstand zorniger Freier zu einem allgemeinen Gesprächsthema werden, und solange es sich vermeiden lässt, wird kein Federstrich je davon zeugen.
Die Geschichte wieder ist das Werkzeug der Gelehrten, eine Wiederholung von unerfreulichen Ereignissen durch die Art ihrer Schilderung zu verhindern.
Geschichte, so ist es der Fakt, wird eben von Siegern geschrieben.


~~*~~

Kyron erwachte mit dem übelsten Geschmack der Welt im Mund. Die Mischung aus Abortgeruch, dem Schweißodeur von alten Socken und der pelzigen Schicht auf Wangeninnenseiten und Zunge ließ ihn mit verzerrter Miene schmatzen, und zügig zur Seite hin ausspucken.
Die Erkenntnis, dass er auf einem weichen, warmen Fell lag, und das in einem Raum der zwar übel roch, aber trotzdem ein gewisses Maß an Sauberkeit aufwies, ließ ihn für einen kurzen Moment die Stirn runzeln, und mit ähnlich zäher Mühe durch sein schmerzpochendes Gehirn wühlen. Wie war er hierher gekommen, wo war er, und warum schmerzte sein Gesicht?
Ein altbekanntes, gefürchtetes Gesicht huschte durch seine verkaterten Gedanken, und sorgte dafür dass er sich zu rasch aufsetzte. Kordian, schoß es ihm durch den schmerzenden Kopf. Ein hastiger Blick in den Raum ließ allerdings keine Hinweise auf den Geist zu, an den er sich zu erinnern meinte, obwohl sein Herz weiter den Schreckensrythmus gegen seine Rippen klopfte.
Kyron hatte seinen Hauptmann das letzte Mal vor mehr als zwei Jahren gesehen, und es war keine schöne Erinnerung. Die letzte Kerkerhaft war eine zuviel gewesen, und die letzten getauschten Worte waren jene zum Thema des ‚Lernens auf dem harten Weg‘ gewesen, bevor die Gittertore zwischen ihnen zugefallen und Kyron seinem eigenen Elend überlassen worden war. Ab davon, dass er sich sehr sicher darüber war, Kordian tatsächlich gesehen zu haben, stellte sich nun allerdings die Frage, wie jemand, der eigentlich auf der anderen Seite der Weltscheibe sein sollte, eines Abends plötzlich in Löwenstein stehen konnte.
Mit einem mühevollen Ächzen zog er sich an der Wand des Kaminraums hoch. Die Frage danach, wo genau er nach seinem viertägigen Dauerrausch gelandet sein könnte, war bereits mit einem Blick in den Raum beantwortet; es war das Armenhaus im Armenviertel, ein Ort den er bereits zuvor ab und zu aufgesucht hatte, wenn er sich sicher sein konnte nicht zu betrunken zu sein und damit nicht die Hausregeln zu brechen. Wie Kordian ihn in das Gebäude bekommen hatte, wo er sich kaum noch an den gestrigen Abend erinnern konnte, war ihm ein Rätsel, aber eines, das er nicht auflösen wollte. Einem geschenkten Gaul schaute man eben nicht ins Maul.
Außerdem war der Drang, in eine Flasche zu schauen bis er den Boden entdeckte, einmal mehr stärker als jeder andere Gedanke, ein Zustand, den Kyron nur zu wohl kannte. Alle guten Vorsätze waren bereits wenige Wochen in Freiheit wieder den Bach runter gegangen, und da all jene Menschen fort waren, die ihn früher mit ihren strafenden Blicken, den harten Worten und den manchmal unumgänglichen Kopfnüssen oder Prügeln davon abgehalten hatten, sich dauerhaft im Alkohol zu begraben, hatte die Lust am Trinken für Monate kein Ende gefunden. Mal mehr, mal weniger betrunken war er zu einer der vielen Gestalten in der Stadt geworden, welche die Abflüsse, verdreckten Ecken und verlassenen Hauseingänge bevölkerten wie die Ratten.
Und wozu auch nüchtern bleiben? Seine alten Kameraden waren höchstwahrscheinlich tot, oder aber in Gefangenschaft irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans, denn einen anderen Grund konnte es nicht dafür geben, dass Kordian alleine war, und von nichts als Ketten auf hoher See noch wusste. Keiner ihres Freischärler-Regiments hätte den Hauptmann jemals sich selbst überlassen, ohne alle Hebel in Bewegung zu setzen um ihn zu retten. Dass seine Ehefrau und sein drei... nein vierjähriger Sohn ebenfalls zu diesen Kameraden zählten, verdrängte er so gut es ging.
Dass auch das Reich nicht mehr viel Spielraum für die alten Freischärler des Nordens ließ, hatte ihm bereits bei seiner Entlassung aus dem Kerker den Rest gegeben. Nun wo die Aufstände in Nortgard und Hohenmarschen endgültig und insofern Geschichte waren, dass keiner mehr darüber sprach, waren all jene Freischärler, die früher auf Seiten der Fürsten oder aber auf Seiten der Einwohner gekämpft hatten, kaum mehr als gesichtslose, ungeliebte Rebellen, die als mahnendes Beispiel für reichsverräterisches Verhalten heran gezogen und ebenso zügig zwangsweise aufgelöst wurden. Dies war der Dank für das vergossene Blut, die durchwachten Nächte, und die Wochen im Dreck gewesen, den er im Namen seines Regiments erhalten hatte, abgestempelt und verpönt als Rebell gegen die Ordnung, die der verhasste Sonnengott proklamierte.
Es war nur schwer vorstellbar, welche Art von Ingrimm und Hass Kordian auf jene rückgratlosen Würmer empfand, für die er früher sein Blut vergossen hatte. Kyron selbst hatte seine einsame Enttäuschung bisher erfolgreich im Alkohol ertränkt, aber nun wo da jemand war, der sie mit ihm teilen konnte, gar seine eigene Wut anzufachen vermochte, da war es nur schwer möglich, den Knoten aus kaltem Hass in seiner Brust zu unterdrücken. Gwynn mochte wissen, wie lange er sich wie einer jener deprimierten, gefallenen Männer verhalten hätte, wäre Kordian nicht aufgetaucht.
Die Kleidung klebte ihm unangenehm am Leibe, als er die Treppe hinunter wankte, und mit einem letzten, schleimigen Husten hinaus in die kühle Morgenluft trat. Normalerweise hätte sein erster Weg nun vor die nächstbeste Kneipe geführt, um Gäste um Getränke oder ein paar Heller anzubetteln, und vielleicht die eine oder andere Prügelei mit frecheren Gesellen zu provozieren, aber an diesem Morgen erschien ihm ein solches Verhalten plötzlich als würdelos.
Nicht dass es zuvor nicht würdelos gewesen war, nein. Es hatte ihn nur schlicht nicht interessiert, wie er sich verhielt.
Nun allerdings schien es, als spüre er immer noch Kordians stechenden Blick zwischen seinen Schulterblättern, und der schiere Gedanke mit einem Krug Schnaps in der Hand erwischt zu werden ließ ihn sich unwohl schütteln. Noch gab es die Möglichkeit, den gestrigen Abend als eine Art unglücklichen Zufall darzustellen, und seine monatelange Saufrunde stillschweigend zu beenden. Um diese wundersame Fügung allerdings zu bewerkstelligen, würde erst einmal ein Bad und die Pflege der schändlich vernachlässigten Ausrüstung notwendig sein.
Mit geübten Fingern zupfte Kyron den kleinen Stoffbeutel mit den letzten, nussblattgestreckten Tabakbröseln aus der Gürteltasche, wickelte sie in ein Stück dreckverkrustetes Papier und entzündete sie an der Fackel nahe dem Armenhaustor.
Ein neuer Tag, eine neue Welt. Zeit, eine neue Geschichtsschreibung zu beginnen.
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Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 13:44
RE: Das Lied der Klinge - von Kyron Mendoza - 06.03.2015, 16:10
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