FSK-18 Wer hat Angst vorm Juren-Mann?
#5



16. Hornung

Gespräch mit Vischaja

Eine lange und geplagte Nacht liegt hinter mir. Albträume voller Blut, in denen wieder und wieder der Khan seine Axt erhebt, um mein Herbstblatt zu köpfen und dann, als der Kopf fällt, ist es ein Menschenkopf, der auf die Erde rollt und es ist auf einmal die Seherin, die die Axt in der Hand hält und sich das noch pulsierende Blut des frisch Geköpften über Gesicht und Oberkörper sprudeln lässt, dazu in fremden, dunklen Stimmen sprechend.

Aber beginne ich von vorne:

Nach der Begrüßung und einer Schale Tee sagte sie mir, dass es im Sinne der Juren höflicher sei, sich gegenseitig zu duzen. (Ich frage mich, warum man mich bisher darüber in Unkenntnis ließ. Wollte man mich bewusst zu einer Unhöflichkeit verleiten, oder war es den anderen schlicht egal?)

Recht kurz danach kamen wir erneut auf die Lüge und was die Seherin davon hält. Sie denkt, dass Lügen ein Herz schwach machen, solange an ihm zehren und Stücke heraus reißen, bis nur noch eine leere Hülle übrig bleibt. Lügen würden nicht nur das Gegenüber beleidigen, sondern auch den eigenen Stolz und die eigene Ehre besudeln. Nur wer nicht lügt, bewahrt sich einen starken Willen und ein kräftiges Herz. (Und ich kann ihr in diesem Punkt nur zustimmen. Große Weisheit klingt aus ihren Worten.)

Dann erzählte sie mir eine Geschichte darüber, warum man sich zu manchen Menschen hingezogen fühlt. (Ich werde sie gesondert veröffentlichen, da sie mir sehr gefallen hat.)

Ich fragte sie später, im Verlauf unseres Gespräches, was eine Seherin der Juren ausmachen würde. Sie sagte, dass sie die geistige Führerin des Stammes sei. In der Hierarchie steht sie direkt unter dem Khan. Ein Seher, oder Seherin sei Richter, Schlichter, Orakel und Ratgeber des Stammes. Richter, um bei Vergehen zu urteilen, Schlichter bei Streitigkeiten innerhalb des Stammes, wobei oft Aufgaben an die streitenden Parteien verteilt werden, auf dass wieder Einigkeit herrsche. Zudem Ratgeber des Khans in allen Belangen und Priester für spirituelle Zwecke, was die Durchführung von Ritualen und ähnlichem beinhaltet. Einige von ihnen (so auch Vischaja) besitzen die Gabe der Vorausahnung. Sie lesen das, was die Zukunft bringen wird aus Flammen, Rauch, Träumen, Knochen oder Blut.

Wird ein Seher alt oder ungenau, oder handelt er nicht mehr im Sinne des Stammes, dann kann er durch einen Schamanen herausgefordert werden. In einem Kampf, der mit Waffen, Magie oder durch bloßen Körpereinsatz ausgetragen werden kann, wird der Sieger als neuer Seher akzeptiert, oder auch in seinem Amt bestätigt. Sie ließ für mich keinen Zweifel offen, dass auch sie durch ihre Götter befähigt ist, Magie zu wirken, allerdings bevorzuge sie die blutigere Art.

So kam sie auch recht schnell auf das Thema 'Menschenopfer' (*doppelt unterstrichen*) und dass sie bereits mit 9 Jahren ihren ersten Menschen geopfert hätte. Manche Menschen würden sich freiwillig zur Opferung bereit erklären, manchmal würde auch ein hochrangiges Mitglied eines soeben besiegten Stammes geopfert, manchmal sind es auch alte und schwache Juren, die den Tod nahe fühlen und so ihren Weg zu den Göttern beschleunigen wollen. Aber zum einen wäre das wichtig für ihr Überleben (Ihrem Argument, dass sich dann andere Gegner ihnen freiwillig anschließen und so weitere Tote verhindert würden, kann ich mich nicht anschließen, möglicherweise ist es so.), was sie in meinen Augen aber nicht hinreichend erklärt hat und zum anderen würden sie nicht wahllos Menschen abstechen. (Auch da bin ich nun etwas skeptisch.)

(Trotz längerer Diskussion über unsere verschiedenen Glauben, konnte sie mir keinen einzigen Grund nennen, warum Menschenopfer wichtig sein könnten. Nicht mal meine Annahme, dass ihre Götter dadurch milder gestimmt würden, konnte sie bejahen. Insofern ist es für mich vollkommen sinnlos, über so etwas auch nur nachzudenken, wenn man keinen direkten Vorteil darin sehen kann. Um ehrlich zu sein, schockiert mich dieser leichtfertige und grausame Umgang mit einem Menschenleben zutiefst.

Wollen viele Amhraner in den Juren noch das romantisch verklärte Ideal von 'Wilden' sehen, die eng mit der Natur verbunden sind und ein hartes, aber freies Leben führen, wird es spätestens bei dem Thema Menschenopfer ad absurdum geführt. Kann man die Sklaverei vielleicht gerade noch so akzeptieren, da sie in diesem Lager in Candaria kaum praktiziert wird, zeigt sich das wahre Gesicht ihrer Natur doch in dem barbarischen Akt der Opferung. Keines der von ihnen so oft in Gleichnissen gewählten Tierarten, denen sie sich offenbar so verbunden fühlen, würde einen Artgenossen aus seinem Rudel töten, um einem oder mehreren Göttern zu folgen, deren Existenz mehr als fraglich ist, zumal sie sich aus diesem Vorgehen nicht mal einen wirklichen Vorteil erhoffen können.

Kann man vielleicht gerade noch nachvollziehen, warum sie ihre Alten und Schwachen sterben lassen, wenn es um den Erhalt des Stammes geht, so fehlen hier einfach jegliche Gründe, gesunde und starke Menschen aufgrund eines Glaubens zu töten.

Von alldem hat die Erscheinung Mithras uns vor nun mehr als 1.400 Jahren erlöst und es bleibt zu hoffen, dass auch diese armen Seelen einst sein Licht sehen können, um sich von diesem verdorbenen Aberglauben abwenden zu können.

Ich bin zutiefst verunsichert, was ich nun davon halten soll und ob meine Beobachtungen so ausfallen werden, wie der Khan es sich wünscht. Ich werde das persönliche Gespräch mit ihm suchen müssen.)

Immerhin lud die Seherin mich nach diesem Gespräch ein, da die Zeit schon weit fortgeschritten war, in ihrem Zelt zu schlafen, was ich auch annahm. Wie schon eingangs erwähnt, war es eine kurze und sehr unruhige Nacht.

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Wer hat Angst vorm Juren-Mann? - von Rahel Goldblatt - 01.02.2015, 23:47
RE: Wer hat Angst vorm Juren-Mann? - von Rahel Goldblatt - 03.02.2015, 20:15
RE: Wer hat Angst vorm Juren-Mann? - von Rahel Goldblatt - 09.02.2015, 13:17
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RE: Wer hat Angst vorm Juren-Mann? - von Rahel Goldblatt - 20.02.2015, 17:00
RE: Wer hat Angst vorm Juren-Mann? - von Rahel Goldblatt - 26.02.2015, 19:46



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