Der Pilger
#3
Der Weg. Der Novize schloss die Augen. Es gibt nur den einen Weg. Mithras. Und er ist so schmal, so unendlich schmal. Wie Betrunkene torkeln wir darauf und versuchen ihn gradlinig zu gehen, aber driften doch immer ab, in die Dunkelheit der wir eigentlich so entschieden entgegentreten wollen.

Die Ordnung kennt keine Stufen, keine Grade, keine Maßeinheiten. Es gibt nur Ordnung oder Chaos. Sie ist das Gewicht, dass uns immer wieder auf den Pfad zurückzieht, uns wie Falter dem Licht unseres Herrn entgegendrückt und wir sind unfähig dem Ruf zu entsagen. Wir sind willentlich Gefangene unserer Seelen, die kein geringeres Ziel als das Licht Mithras' kennen. Und doch beflecken und beschmutzen wir uns dabei, nur um uns Tags darauf zu säubern und erneut zu beflecken und zu beschmutzen. Bis wir angekommen sind. Irgendwann.

Der Körper des Novizen fühlte sich in dieser Nacht schwerer an, wie ein Bleigewicht, welches ihn in sein Bett hinabzog, hinunter. Es war in so kurzer Zeit so viel passiert und Arhenius hatte sich im Mahlstrom der heiligen Kirche des Mithras mitreißen lassen wie ein selbstmörderischer Seefahrer im Strudel eines Monstrums auf hoher See. Stolz über die Errungenschaften, die Indoktrination, verlieh ihm Auftrieb – Scham und Ärger über seine Verfehlungen in der kurzen Zeit seiner Novizenschaft schienen ihn unter die Oberfläche zu drücken, ihm den Atem zu nehmen. Ungeachtet beider Alternativen, er versank immer tiefer im Strudel des Glaubens, der Kirche. Willentlich, begierig obwohl niemand genau sagen konnte was ganz unten, am Ende der Zerstörung des Wiederaufbaus durch Demut, Folgsamkeit und Gehorsam wartete.

Wie einer Droge, einem tiefen Rausch war er dennoch unfähig all' dem zu entfliehen und sich von der heiligen Kirche und ihrem Glauben, wie er es sich immer gewünscht hatte, prägen und formen zu lassen. Jede Handlung, egal ob gut oder schlecht, jede Erfahrung, ließ seinen Geist entflammen und ihn Neues erlernen und in dieser Nacht spürte er erstmals, wie sein Körper unter dieser Last seinen Tribut forderte. Er wollte schlafen, ausgeruht für den nächsten schweren Tag auf dem Weg sein, doch sein Geist entließ ihn nicht. Er forderte mehr, forderte die Verarbeitung all' dessen, was passiert war.

Allem voran, bohrte sich immer wieder eine Empfindung, wie ein Stachel, in den nächtlichen Ausflug seiner Gedanken: Die Enttäuschung, das Schwinden allen Eifers aus Athanasias Blick als sie hörte, dass er vor ihr seine Indoktrination empfangen hatte. Er kannte diesen Blick, diese Kraftlosigkeit als würde er in einen Spiegel blicken, einen Spiegel in dem er sich vor wenigen Tagen selbst gesehen hätte. Ein Spiegel, aus dem sie, seine Schwester, dieser ihm so teuer gewordene Mensch auf dem gemeinsamen Pfad, ihn befreit hatte.

Oh wie gerne hätte er sich sein Amulett mit der hölzernen Sonneninsignie vom Hals gerissen, wenn er damit das Leid dieses stolzen, dieses kraftspendenden Menschen hätte tilgen können! Zu Erkennen, dass es ihr genauso wenig Fortkommen brächte, dass die Dinge geschehen waren, wie sie nun einmal geschahen, schmerzte ihn und erfüllte ihn mit Kraftlosigkeit. Er fühlte sich, als hätte er ihr Vertrauen, dieses Grundvertrauen, was zwischen ihnen bestand, beschmutzt, auch wenn sie anderes beteuerte und sich seinen Armen anvertraut hatte.

Vielleicht, so mutmaßte er, war dies nun seine Prüfung. Nicht, dass nicht jeder Tag auf dem Pfad des lichten Herrn Mithras, schon eine Prüfung für sich war, nein – dies war eine besondere. So wie seine Schwester ihm stets Trost zu spenden vermochte, war es nun an ihm, ihre Kraft nicht versiegen zu lassen, ihr dort Licht zu geben, wo nur Dunkelheit herrschte. Nicht nur aus reinem Pflichtgefühl, sondern auch aus der ehrlichsten Zuneigung, die ein Mensch wohl für einen anderen empfinden konnte – ohne Hintergedanken und mit absoluter Bedingungslosigkeit.

Sie alle, Sonnenlegion und Priesterschaft, waren ein Schiff, getaucht in Licht auf einer schwarzen See. Und wenn ein Teil der Mannschaft von Bord zu gehen drohte, war es die Aufgabe der anderen, das rettende Seil auszuwerfen. Diese Analogie hatte er in den letzten Tagen oft vor seinem geistigen Auge gesehen und empfand sie als passend. Seine Beziehung zu seiner Schwester, zu Athanasia jedoch, ging für ihn darüber hinaus. Er war sicher, wenn sie untergehen würde, würde er ebenso ertrinken. Und obwohl dieser Gedanke Furcht hätte auslösen können, gab er ihm Stärke und Sicherheit. Und vor allem eines: Klarheit.

Und mit diesen letzten Gedanken schaffte es der Novize dann doch, den Rest der Nacht schlafend zu verbringen, trotz des regelmässigen Hustens einer einzelnen Priesterin, die einige Betten weiter schlief.
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Nachrichten in diesem Thema
Der Pilger - von Gast - 29.11.2014, 19:25
Von der Gosse und der Rettung - von Gast - 01.12.2014, 02:49
Der Weg - von Gast - 04.12.2014, 18:12
Flammen - von Gast - 06.12.2014, 02:59
Harmlos - von Gast - 07.12.2014, 16:58



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