Der Pilger
#2
Das Nachtgebet war lange vorbei und die Diener der Kirche des Mithras hatten bereits wieder ihre Betten bezogen und sich dem sicheren Schlaf unter Seiner Wacht anvertraut, da begann einer wieder seine Augen zu öffnen, getrieben von dem eigentümlichen Bedürfnis, einen Teil der Nacht nicht in seiner ihm anvertrauten Schlafstatt zu verbringen.

Unter dem leisen Geräusch nackter Füße und dem beinahe tonlosen Rascheln seiner Robe begab sich der Anwärter aus seinem Quartier in die Schreibstube und entzündete eine Kerze. Das Kerzenlicht durchschnitt die in den Raum eingedrungene Dunkelheit wie das Leuchtfeuer eines fernen Hafens den Schiffen auf dem weiten Ozean die sichere Heimstatt weist. Die Dunkelheit indes, hatte keine andere Wahl als einen Teil des Raumes wieder freizugeben, in dem sich nun der Anwärter befinden sollte.

Ein kleines, unscheinbar gebundenes Büchlein wurde mit den noch immer von Entkräftung gezeichneten Fingern betastet und befühlt, als seien die Augen nicht imstande, sich der tatsächlichen Existenz dieses Buches zu versichern. Mit aller gebotenen Vorsicht öffnete der junge Mann das Schriftwerk und blätterte ohne Hast und mit aller Bedacht voran um zu den noch unbeschriebenen Seiten zu gelangen.

Der rasche Blick auf jede der bereits beschriebenen Seiten offenbarte nicht nur die Handschrift des neuen Kirchendieners, sondern auch so manch andere persönliche Information, die er bislang nur der stummen Beichte der Schrift anvertraut zu wagen gedacht hatte.

Nurmehr rasche und geübte Handgriffe machten eine Feder alsbald schreibbereit und begannen nach einer beinahe kunstvollen Pause, in der sich der Anwärter der Geschehnisse seit seiner Abreise vom Heimathofe nochmal gewahr machte, ihre Magie in Form des Schreibens zu wirken.

„Zwei Tage sind vergangen“, begann er zu schreiben und dabei seinen Zügen die Entspannung zu schenken, die der Schlaf ihm nicht zu gönnen vermochte. „Zwei Tage sind vergangen, seit der Klerus der heiligen Kirche des Mithras meinem Wunsch stattgab, mich als Anwärter in ihre Reihen aufzunehmen. Obschon mancher sagen würde, Du seist nur ein seelenloser Gegenstand, dem ich Banalitäten als Geheimnisse zu verkaufen gedenke, so empfinde ich doch die Schuld, als hätte ich einen wartenden und liebenden Menschen zurückgelassen.

Ich kehre also mit einer Entschuldigung zurück. Einer Entschuldigung, erst jetzt meine Feder wieder dem Papier Deiner Seiten zu widmen und Ihnen anzuvertrauen, was Du selber weder erleben noch empfinden kannst. Unser Weg, das weißt du selbst am allerbesten, war beschwerlich und doch vermag wohl kaum eine der anderen jungen Seelen im Tempel zu ahnen, wie wohltuend die schwere Arbeit im Tempel im Vergleich zu unserer Reise nun ist. Das erste mal, als wir unserer Münzen beraubt, getreten und im Dreck liegen gelassen wurden, war es mehr Glück als Wille, dass wir nicht getrennt blieben und ich danke Mithras für seine Weitsicht, dich nicht von meiner Seite genommen zu haben. Denn in der darauffolgenden, kalten Nacht fand ich nur Trost in den Zeilen die nun auf ewig Dein und somit unauslöschbar sind.

Den zweiten Überfall ahnten wir bereits voraus und ich konnte nicht umhin, Dich dort zu verstecken, wo man nur die zärtliche Berührung einer Frau hinlassen würde, was mir bei den anschließenden Prügeln nicht nur Deinen, sondern auch den Erhalt meiner Männlichkeit sicherte.

Ich fürchtete, ich würde wie ein Hund in der Gosse sterben und doch türmten sich irgendwann die hohen Mauern und Dächer Löwensteins vor mir auf, wie eine rettende Insel, die man nach langer Irrfahrt zu erreichen gedenkt und bei der es vollkommen gleich ist, ob sie schmutzig, sauber, nett oder freundlich ist. Sie ist der Ort, an dem die Uhr des Lebens nicht mehr den Stillstand auszurufen gedenkt, sondern die Glockenschläge aller Uhrwerke der Stadt zusammen im Fanal das Überleben besingen – ungehört von jenen die schon ewig dort leben, ungesehen von jenen die nur des Handels wegen gekommen sind – aber ein Blick ins Elysium für denjenigen, der sich schon längst im Zustand der lebendigen Verwesung glaubte.

Zitrrig und scheu, wie einen Gossenhund zum rettenden Knochen, trieben die Massen unbekannter Gesichter meinen zermarterten und entkräfteten Körper durch die Straßen, ohne auch nur Notiz von mir zu nehmen bis sich mitten in dieser rettenden Insel ein Glanz auftat, Gesang meine Ohren erfüllte und Licht meinen Blick blendete. Der Tempel des Mithras war ein derart gewaltiges Gebäude, dass ich es selbst in meinem dem Delirium nahen Zustand leichtweg als Liebeserklärung an den einen Herren identifzieren konnte und es voller Vermessenheit wagte, mich in dessen Schatten zu setzen, in der Hoffnung aufgelesen zu werden.

Auf den Gedanken, den Tempel eigenmächtig zu betreten, kam ich gar nicht erst, so hatte mich die Ehrfurcht ergriffen und mir vor Augen geführt, wie niedrig meine Existenz nurmehr wahr. Einzig der Barm- und Warmherzigkeit einer gläubigen Bürgerin Löwensteins verdanke ich die Führung in das Innere, das Bollwerk gegen Chaos und Dunkelheit, das Zentrum der Ordnung eines ganzen Reiches.

Sie nahm meine Hand und führte mich direkt in die Arme der Priesterschaft, die, obschon sie mich ob meiner niederen Erscheinung hätten fortjagen können, sich meiner annahm, meinem Leib Kleidung, meinem Geiste Nahrung und meiner Existenz wieder einen Zweck gab!

Wenngleich die Arbeiten zahlreich, die Regeln streng und die Tage lang sind, so fühle ich mich, als wandelte ich jeden Tag auf's neue im Lichte einer beschwerlichen aber wundervollen Zukunft.“


Der Anwärter taxierte mit einem raschen Blick auf die Kerze dessen weiteren Brennkraft und strich mit der freien Hand beinahe liebkosend über eine weitere, freie Seite. Es schien ihm Schmerz zu bereiten, seine Zeilen hier enden zu lassen, obwohl sie doch eigentlich so hoffnungsvoll waren. So viele Sachen jedoch blieben unerwähnt. Nach einer Weile des Abwägens entschied er schließlich, noch einige Zeilen zu Papier bringen zu müssen.

„Es grämt mich, dass unser Wiedersehen von nur so kurzer Dauer war und doch ersehne ich die nächste Gelegenheit, in der ich dir anvertrauen kann, was im beschwerlichen Alltag des guten Werkes an unserem Herren Mithras so schnell an mir vorbeizieht. Denn nicht nur schwindet die Leuchtkraft der Kerze, die ich entzünden musste, um mir einen kurzen Moment im Lichte zu erkaufen, sondern auch will ich nicht das Erwachen einer Schwester im Geiste verpassen, der ich gelobte, meiner Schlafstatt nicht fern zu sein, wenn es denn die Zeit zum Erwachen ist.

Wenngleich ich nicht weiß warum, so grämt sie sich mit schrecklicher Trauer und wie gering hätte ich mich zu schätzen, würde ich darob mein Wort nicht halten. Und so schließe ich, in der Hoffnung, dass wir bald einander wieder anvertrauen können und ich Dir voll Stolz berichten kann.

Auf bald, Mutter.“
schrieb er noch, als die Kerze im gleichen Moment erlosch und den jungen Anwärter in der Dunkelheit der Schreibstube zurückließ. Während er in der Lichtlosigkeit seine Feder trocknete und dem versiegenden Rauch des Kerzendochts als Schatten vor den verzierten Fenstern mit seinem Blick folgte, war da doch ein einzelnes Licht, welches sich im Raum beharrlich vor dem Versiegen sträubte. Es war das Aufblitzen einer einzelnen Träne, die bald schon die Wange des jungen Mannes hinabrennen sollte.
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Der Pilger - von Gast - 29.11.2014, 19:25
Von der Gosse und der Rettung - von Gast - 01.12.2014, 02:49
Der Weg - von Gast - 04.12.2014, 18:12
Flammen - von Gast - 06.12.2014, 02:59
Harmlos - von Gast - 07.12.2014, 16:58



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