Der Pilger
#1
Herwig Frankenwardt Niederquell wurde vom Zetern seiner Frau geweckt. Schon wieder. Heute begann es äußerst früh, wie er an der aufgehenden Morgensonne durch das Fenster blitzschnell kombinierte. Wenn Grethildt Niederquell, seine Greta, beschloss, dass es an der Zeit war „tacheles“ zu reden, dann gab es nichts und niemanden, der sie daran hindern würde. Diesmal verschaffte sie ihrem Ärger, von der Zeterei abgesehen, dadurch Luft, dass sie die Betten machte, unabhängig davon, ob Herwig noch darin lag oder nicht.

Als er auch nur den Hauch eines Zuges an seiner Bettdecke spürte, beschloss er deshalb blitzschnell die wohlige Wärme seiner Schlafstatt zu verlassen und sich nun, nur in seinem Schlafkleid, mit den Problemen seiner Frau zu befassen. Er mochte auf einen Außenstehenden etwas armselig gewirkt haben, als er so dort stand, noch etwas fröstelnd und seine Frau unablässig auf ihn einredete. Meistens begann sie damit zu lamentieren, dass sie ihn niemals hätte heiraten dürfen und dass sie es bei anderen Männern sicher besser gehabt hätte. Hätte sie gewusst, dass sie einen Ehebrecher heiraten würde, wäre ohnehin alles anders geworden. Und wäre dieser Umstand nicht gewesen, hätte Herwig vermutlich schon längst den Mut gefunden, sie dorthin zu schicken wo buchstäblich der Pfeffer wächst.

Diese Episode war jedoch bereits überstanden und daher verstieg sich Greta nun darauf, immer wieder aus dem Fenster zu deuten und ihm darzulegen, dass bis vor wenigen Momenten noch nichts am Hofe getan war und sein Sohn, wie sie betonte, noch keinen Handschlag getan hatte. Ihre Kinder hingegen, hatten sich beinahe heldenhaft aufopfernd um dessen Arbeit gekümmert. Herwig kam nun die ruhmvolle Aufgabe hinzu, das ahnte er bereits, den Bastardbalg, wie Greta ihn in dessen Abwesenheit nannte, aus den Federn zu holen.

Die offenkundig freilich rhetorische Frage ob er denn wisse, warum sie „den Fehltritt“ - die andere Bezeichnung für den jungen Mann, der in einem einsamen Stallzimmer sein Leben fristete – durchfütterte, hörte Herwig schon fast nicht mehr als er sich notdürftig angekleidet hatte und bereits auf dem Weg nach unten war. Die Antwort darauf kannte er mittlerweile auch bereits auswendig: Aus Liebe. Greta, mit ihrer fürsorglichen Art, tat nämlich alles aus Liebe. Zu ihm, zu den Kindern, ja selbst aus Liebe zu dem Bastard für den sie sich natürlich in jeder freien Minute aufopferte, wie sie betonte.

Dass es der Art des Jungen gar nicht entsprach, morgens nicht als erster im Stall und auf der Weide zu sein, das hatte sie bei der ganzen Aufopferung jedoch wohl vergessen. Deshalb war Herwig auch der einzige, der sich einigermaßen sorgend auf den Weg zu dessen Zimmer machte, in der freudlosen Erwartung dass sich der junge Mann vielleicht selbst einen Strick genommen hatte um seiner kummervollen Existenz ein Ende zu machen. Herwig zumindest, hatte mit diesem Ende bereits selbst das ein oder andere mal kokettiert, freilich gleich nachdem er seiner liebevollen Frau den Rachen bis zum Atemstillstand mit Gänseschmalz gefüllt hatte.

Als er die Treppen hinaufgestiegen war, fand er jedoch nur das Zimmer seines Sohnes vor. Es war wie üblich ordentlich hinterlassen und einzig ein Paar der zahlreichen Bücher und seine Kleidung fehlten. Ein einzelnes Papier jedoch brachte Herwig die Aufklärung über das Fernbleiben seines Sohnes, nach der Greta so nachdrücklich verlangt hatte.

Beim Lesen kam Herwig der Gedanke, dass sich sein Sohn bereits lange mit dem Gedanken getragen hatte, den er nun in Tat umsetzte. Die makellose Schrift und die saubere Formulierung legten zumindest den Schluss nahe, dass es ihn viele Anläufe gekostet hatte, diesen letzten Teil seines Lebens auf dem Hof zu dokumentieren:

Zitat:Höchst verehrter Vater, höchst verehrte Frau Niederquell!

Viele Jahre wurde ich nun aufopferungsvoll umsorgt, obschon in Schande gezeugt. Nicht länger kann ich es hinnehmen, Euch zur Last zu sein und Euren langen und aufopferungsvollen Weg der Ehe weiter mit Steinen zu beladen. Mich grämt es, von Eurem Essen und Eurem Trinken zu nehmen und dies nur mit einfacher Stall- und Feldarbeit vergelten zu können. Ich gebe Euch nicht mehr als ein in Dienst gestellter Mittelloser geben könnte, nur dass ihr die Wahl über dessen Anstellung hättet selber treffen können.

Ich habe nun erkannt, dass Ihr nicht weniger getan habt, als Eure Schuld im Angesicht des einen Herren Mithras durch Eure Taten zu reinigen und hoffe, dass für dessen Aufopferung niemals über meines Vaters Person weltliches Gericht gehalten werden soll, für den einen Moment, in dem er nicht der starke und vorbildhafte Mann war, den ich einen Vater nennen darf.

Ich habe weiterhin erkannt, dass meine Existenz selbst ein Schandfleck ist, über den es zu richten gilt und ich hoffe, dass die heilige Kirche des Mithras es vermag, mir diese Sünde von der Seele zu nehmen, auf dass ich nicht als der Frevler dem Antlitz dieser Welt entsteige, als der ich in sie hineingeboren wurde.

Also verabschiede ich mich in der Hoffnung, dass mein Ansinnen allein mich heil' nach Löwenstein führen wird, ohne dass ich in Raub, Schändung und Eiseskälte am Wegesrand sterben möge und das Ende finde, welches ich doch so sehr fürchte.

Werter Herr Vater und werte Frau Niederquell, seid versichert, dass ich Euch nicht weiter zur Last fallen werde, auch wenn die hochheilige Kirche meinen Leib nicht von der Schande zu befreien in der Lage sei, in die ich hineingeboren ward. Selbst dann, wenn all' meine Hoffnung auf einen reinen Geist versiege, werde ich freilich andernorts eine Aufgabe finden, die meinem Stande entspricht, ohne dafür von Euren Sachen zu nehmen. Seid zudem versichert, dass ich Euch einen Boten schicken werde, der Euch für die Kleider entschädigt, die ich mit auf den Weg nach Löwenstein genommen habe, fürchtete ich doch der Unzüchtigkeit beschuldigt zu werden, wenn ich im besten Ansinnen, doch aber nackt meinen Weg angetreten wäre.

In Ergebenheit und Dankbarkeit,
Arhenius

ps: Meinen Halbbrüdern sei gesagt, dass ich mich für die Unpässlichkeit zur morgendlichen Stallarbeit entschuldige.


Und so ging das Leben auf dem einsamen Hof in Candaria nach einer kurzen Störung weiter. Der alte Herwig würde sich zwar noch lange fragen, ob sein unehelich gezeugter Sohn sein Ziel erreicht hatte – aber eigentlich waren alle am Hofe froh, dass sie nun vorgeben konnten, der junge Mann hatte niemals im Leben der Familie Niederquell existiert. Und so beschloss man, um den Familienfrieden bemüht, dass man nie mehr über den jungen Mann, den sie als Arhenius Niederquell aufzogen, sprechen würde.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Der Pilger - von Gast - 29.11.2014, 19:25
Von der Gosse und der Rettung - von Gast - 01.12.2014, 02:49
Der Weg - von Gast - 04.12.2014, 18:12
Flammen - von Gast - 06.12.2014, 02:59
Harmlos - von Gast - 07.12.2014, 16:58



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste