Im Angesicht des Mondes
#2
Anjali hatte sich in dem alten Wagen, der dort im Armenviertel stand, niedergelassen. Niemand schien ihn zu nutzen und nur zu gern nahm sie ihn für sich in Anspruch, erinnerte er sie an ihr bisheriges Zuhause. Seit gestern irrte sie durch Löwenstein, orientierungslos, keine Seele kennend bis sie diesen Ort hier fand. Der Wagen stotzte vor Dreck, und auch wenn man dem fahrenden Volk Diebereien und Betrug nachsagte, vermochte niemand ihresgleichen in einem Schweinestall leben. So warf Anjali alles schmutzige hinaus, fegte den Boden, und schüttelte die Decken solange bis auch kein Staubkörnchen mehr zum Niesen anregte. Auf dem Tisch plazierte sie eine Kerze und Großmutters Karten. Die Kristallkugel die ihre Vorgängerin hiergelassen haben musste wurde poliert und erhielt den Platz am Tischende.
Die Wahrsagerei konnte ihr das Überleben erleichtern, das hatte sich gestern Nacht bereits gezeigt. Doch wie sagte Großmutter immer? "Jali, Kleines, gibt acht, wenn die Mithrasanbeter in der Nähe sind, sie neiden uns die Fähigkeiten und wollen uns nur am Pranger sehen!"
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Was Anjali's Fähigkeiten betraf waren diese, verglichen mit denen der Großmutter eher spärlich, doch musste es reichen. Sie wusste welche Linie für was stand, oft genug hatte sie Ama zugesehen und ihren Worten gelauscht. Bei den Göttern, wie konnte Großmutter einen jeden zum Staunen und ehrfürchtigen Schweigen bringen, kaum dass sie in deren Hand las. "Jali", so sprach sie oft, "Jali, die rechte Hand steht für alles Vergangene und die Gegenwart. Die Linke jedoch für das was sein wird, für alles was kommen mag." Anjali betrachtete ihre eigene Hand, beinahe wieder in Tränen ausbrechend, ein Zustand, den sie so garnicht von sich kannte, sie, die doch stets frohen Mutes der Welt zugewandt war. Der Tod ihrer Sippe traf sie tief, ließ sie leiden, so sehr vermisste sie ihre Leute. Joshi, ihr Vater, Ama die Großmutter, Bari ihr kleiner Bruder, Janek, Truska, Anosch, ihre Onkel und all die anderen.
Sie wusste nicht was aus ihr werden sollte. Anjali's Gedanken kreisten, doch ganz besonders beunruhigte sie das gestrige Handlesen in der Taverne, als sie die Gegenwart ihrer Großmutter zu spüren glaubte. Wie sehr hätte sie nun den Rat ihrer Großmutter benötigt, wie sehr wünschte sie sich all ihre Leute zurück. "Du lebst und du kannst es... weiter so...", hörte sie leise Ama's Stimme.

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Im Angesicht des Mondes - von Anjali - 23.11.2014, 19:37
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