Katzengold
#3
Die Möwe starrte auf das schwarzglänzende Nest vor sich. Sie war verwirrt. Schon eine Weile lang hatte sie wellenschaukelnd ausgeharrt und das Nest beäugt. Es war ihr nicht geheuer. Das Ding zu dem es gehörte rührte sich immer wieder. Das Nest tauchte manchmal unter. Wenn es wieder hochkam, spuckte es Wasser. Die Möwe flatterte pro forma einen halben Meter weiter. Sie wäre ja ganz weggeflogen, aber da war noch immer dieses Nest. Es wiegte sich im Wellenrhythmus und schien zu rufen: "Ich bin bequem und trocken! Setz dich rein! Bin wie für dich gemacht!"

Möwen. Die waren wirklich nicht der Rede wert. Schmeckten nach Algen, Salz und verrottetem Fisch. Die hier war auch noch alt. Angestrengtes Kauen übertönte beinahe das nervtötende Grillenkonzert. Lix saß vor ihrem kümmerlichen Feuer und stocherte lustlos in der Asche. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Nachts verließ sie die Straßen. Da trieben sich nur Wegelagerer und hungriges Diebespack drauf herum. Anständige Leute saßen nach Einbruch der Dunkelheit an ihren Herdfeuern und sperrten die Nacht aus.

Sie hatte allerdings auch kein Bedürfnis, irgendjemandem von denen am Tag zu begegnen. Wenn sie die leisesten Kennzeichen von menschlichen Schritten oder Hufgetrappel vernahm, schlug sie sich in die Büsche. Sie gab mittlerweile ein bemerkenswert entsetzliches Bild ab. Zerkratzte Arme, Beine, Wangen, eingefallene Wangen, starrer Blick. Lix war es nur recht, wenn die wenigen Menschen, denen sie doch nicht ausweichen konnte, die Straßenseite wechselten. Am Tag zuvor hatte ihr einer ins Gesicht gestarrt. Sie hatte sofort größere Schritte gemacht und sich an der nächsten Biegung im Gestrüpp verborgen. Sie war fast sicher, die Hakennase des Wanderers schon einmal verspottet zu haben. Ein Markthallenlieferant? Hafenarbeiter? Verdammt. Er hatte sie auch erkannt.

Der Rest der zähen Möwe zerfiel in verkohlte Stückchen. Die wagemutige Jägerin starrte ins glimmende Nichts zwischen dunkler Erde und Geäst. Sie brachte es nicht über sich, seine Hälfte aufzuessen. Das war gegen den stillen Kodex. Auch wenn er mehrere Tagesmärsche entfernt war.

Nacht senkte sich über Sträucher, Gestrüpp und Wiesen. Das war die schlimmste Zeit für Lix. Sie hätte niemals laut gesagt, warum sie sich dann flach auf den Boden drückte und sich die Ohren zuhielt, aber die Wahrheit war, dass kalte, nackte Angst sie dann im Klammergriff hielt. Für ein Landstreicherleben, mutterseelenallein auf weiter Flur, war sie nicht gemacht. Ihr Wiegenlied war die Kakophonie der Straßen, das Gezeter von Wirten, das Krakeelen der Besoffenen und das gelangweilte Gestöhne der Dirnen. Ihr Weckruf war Rins Krähen, Shins dröhnender Gruß oder das Meckern des Peckmanschafs. Hier gab's nur Wolfsgeheul, Eulengeuhe und das Sirren der Stechmücken. Gefahr kam von allen Seiten und man konnte nie sicher sein, ob man die nächste Nacht überleben würde.

Lix erstellte Geräuschkataloge im Kopf, während sie zusammengekrümmt daliegend auf den Morgen wartete und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Bilder. Die Bilder waren klarer als alles, was sie seit sieben Tagen getan hatte. Armenviertel. Herumschleichende Lumpen hinter dem Wagen. Kein Tropfen Wein, Met oder Schnaps. Geballte Aufmerksamkeit. Hände, die sich fanden. Schwummriges Bauchgefühl und wattiger Kopf. In all dem Wundern eine Selbstverständlichkeit, als hätte es schon immer Hände im Nacken gegeben und Küsse und ihn.

Sie übte zum fünfzigsten Mal, Gesicht der Erde zugewandt, Ohren vor Nachtgeräuschen beschützt: "Sag nix. Hör zu. Ich weiß, du hältst mich für gestört. Das war auch wirklich gestört. Man haut nicht einfach ab. Hab's nicht aus Bosheit getan, das musste mir glauben." Scheiße. Das war völlig lahm so. Einfach tun als wär nix? Tun als wär das ihre lässige Art, einfach mal abhauen ohne Nachricht an irgendwen? Hingehen und ihn abschmusen, alle Schuld von sich weisen? Ginge, wenn's nicht Julias wär. Einer, der verstand, was die Straße einem abverlangte. Einer, dem Solidarität bei den Eigenen über alles ging. Der seine eigenen Dämonen im Zaum hielt, mit Laudanum und ohne. Der zu wichtig war, um verdient hätte, für dumm und dämlich verkauft zu werden. Irgendwie musste sie Worte finden, mit denen sich erklären ließ, dass sie eine Scheißangst davor hatte, irgendwem nah zu sein, weil sie so fürchtete, was passieren würde, wenn das wieder aufhörte. Dann lieber selber im ersten Panikmoment den Hut genommen und den Überraschungsmoment genutzt. Das war erst recht dumm und dämlich, wie sie sich auf die Weise selber um Möglichkeiten brachte, aber so war das. Zack, Karten auf den Tisch.

Erstes Licht fiel auf die Wiesen. Sie war schon länger auf den Beinen. Es war Zeit, dass diese Farce endete. Verstecken war nur was für Verlierer.
Man, money ain't got no owners. Only spenders.




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Katzengold - von Lixari Tiefenthal - 15.07.2014, 18:50
RE: Katzengold - von Julias Kerzwacht - 17.07.2014, 00:10
RE: Katzengold - von Lixari Tiefenthal - 18.07.2014, 03:48
RE: Katzengold - von Julias Kerzwacht - 19.07.2014, 21:21



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