Die Bognerin
#2
‚Ich habe heute ein paar Heller verdienen können. Wir schlafen heute ausnahmsweise einmal drinnen.‘
Die Worte brannten wie Feuer in Emilys Seele. Sie hatte ihr erzählt das Wildbret hätte ihr ein reicher Mann abgegeben. Er hätte Mitleid mit ihr gehabt. Mireille hatte nicht einmal alles davon gegessen, obwohl man ihrem Körper den Hunger deutlich ansah. Sie hatte das Essen mit Emily geteilt. Beinahe hätte es ihr die Tränen in die Augen getrieben.
Den ganzen Tag hatte sie sich im Armutsviertel herumgetrieben. Den Stadtwachen geholfen dort für Ordnung zu sorgen. Eine lebensgefährliche Arbeit für einen Hungerlohn. Wahrscheinlich hatte sie sich von Emily alleingelassen gefühlt. Bisher hatte sie sie immer begleitet – allein schon aus Angst es könnte ihr etwas passieren.
Der Morgen graute und sie hatte fast kein Auge zugetan.
„Begleitest du mich heute?“, fragte Mireille vorsichtig. Man musste es Emily ansehen, dass sie kaum geschlafen hatte.
„Nein, tut mir Leid, ich habe heute noch etwas vor.“
„Was hast du denn bitte vor?“
„Ich bin da an etwas dran … womit wir vielleicht ein wenig Geld verdienen können.“ Auf Mireilles irritierten Blick hin fügte sie rasch hinzu: „Und außerdem brauchen wir Holz für neue Pfeile.“
„Also gut, wie du meinst.“ Sie schien alles andere als glücklich darüber, aber sie kannte Emily gut genug. War sie einmal von einer Idee beseelt, konnte man sie nur schwer davon abbringen.
Am liebsten hätte sie es ihr gesagt. Ihr das Geld hingehalten. Ihr klar gemacht, dass sie das nicht tun musste, sie in einem besseren Zimmer wohnen konnten. Aber die Angst sie könnte es falsch verstehen, schnürte ihr jedes Mal regelrecht die Kehle zu. Sie hatten so viel durchgemacht, sie wollte sie nicht verlieren. Außer ihr hatte sie keinen mehr, nun da ihre Zieheltern tot waren.
Kaum war Mireille von dannen, beeilte sich Emily in den Wald zu kommen. Sie blieb nahe der Stadt, fürchtete sie sich doch allzu sehr vor wilden Tieren. An einem geeigneten Baum entfernte sie ein paar breitere, biegsame Äste und machte sich gleich daran deren Rinde zu entfernen. Mit dem nicht mehr allzu scharfen Messer war es eine regelrechte Plagerei. Stunde über Stunde arbeitete sie emsig am kalten Waldboden. Sie war so darin vertieft, dass sie kaum bemerkte, wie ihre Finger immer tauber wurden.
Endlich war sie soweit, dass sie die Äste beginnen konnte zu kleineren Stücken zurechtzuschneiden. Der Abend graute schon, als sie endlich vier gebogene Holzstücke und einige weitere Holzplättchen zurechtgeschnitten hatte.
„Du hast wieder mit dem Bognern angefangen?“, fragte Mireille sie, als sie ihr Zimmer betrat.
Emily nickte nur geistesabwesend, während sie die vier Holzstücke soweit zurechtschnitzte, dass sie sie ineinanderstecken konnte.
„Du hast das doch nicht alles mit diesem stumpfen Teil da gemacht?“
Emily sah kurz von ihrer Arbeit auf und blinzelte sie verwirrt an.
„Wieso?“
„Du brauchst doch einen Hobel, eine Säge …“ Mireille rang nach Worten. „…ordentliches Werkzeug! Zeig mir deine Hände!“
Sie kam zu Emily rüber und griff grob nach deren Händen. Tatsächlich waren die Handflächen völlig aufgescheuert. Nun als sie es sah, spürte sie auch sogleich den dazu passenden Schmerz.
„Das ist doch verrückt! Wie willst du damit etwas verdienen?!“, herrschte Mireille sie an.
„Es wird sich sicher ein Käufer finden“, entgegnete sie kleinlaut.
„Wenn du jemals damit fertig wirst. Emily, wir haben keine Zeit für solche Spielereien. Wir haben gerade mal genug Geld, um nicht auf der Straße übernachten zu müssen!“
Nein haben wir nicht, wollte sie schon sagen, aber sie schwieg betroffen.
„Vertrau mir!“, sagte sie stattdessen in geradezu flehendem Ton.
Mireille fixierte sie noch einen Moment mit starrem Blick, dann winkte sie ab und legte sich wieder hin. Emily wartete einen Moment ab, ob sie vielleicht noch irgendetwas sagte, aber sie schwieg. Betroffen legte sie ihre Werkstücke beiseite und kuschelte sich von hinten an ihre Schwester. Aber nur eisiges Schweigen beantwortete ihre Geste.
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Die Bognerin - von Emily Rosendorn - 24.02.2014, 11:31
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