FSK-18 Animas Noctis
#19
Das Holz um ihn herum arbeitete. Knackte, knisterte, stöhnte. Und der Wind tobte um das Haus, fuhr durch die Äste der Bäume ringsum, peitschte sie gegen das Haus und rüttelte an den Fensterläden. Es war laut. Und in all diesem Lärm hörte er seinen Hund – nicht wimmern, das tat er nicht mehr, aber er beobachtete ihn und atmete. Götter, was immer ihm Aygo da verpasst hatte, es verstärkte die Sinne auf eine Art und Weise... Und das war nur das Gehör.
Wenn er die Augen öffnete, konnte er alles mit einer Klarheit sehen, die fast schon schmerzlich war. Seine Nachtsicht war um ein vielfaches besser geworden – so fühlte er sich jedenfalls. Er konnte Dinge sehen, die ihm vorher nie aufgefallen waren. Die Kerze, die auf dem entfernteren Fassthekentisch brannte war um die Ecke, aber er konnte trotzdem so gut sehen... Inzwischen war ihm auch bewusst, das selbst Kerzenlicht seine Augen schmerzte. Viel zu hell...
Für das Gehör zu laut, für die Augen zu hell. Sein Tastsinn... Das Bettzeug fühlte sich rauh an. Die Felle hingegen, mit denen er sich zudeckte – sie waren eine wahre Wonne. Er hatte sich seine nun unbequem anfühlende Kleidung wieder anziehen müssen, da die Felle auf seiner nackten Haut... Es war zuviel gewesen. Auch die Wolldecke hatte er entfernen müssen – sie kratzte und juckte, das er sich ständig kratzen musste. Er war überrascht gewesen, als er feststellte, das er sich wund gekratzt hatte an einem Arm... Einfach zu viel... Zuviele Empfindungen – zu starke Empfindungen... Sogar sein Gefühl für heiß und Kalt war ducheinander geraten. Und er hatte Durst. Wie oft war er aufgestanden, um sich eine Kelle Wasser zu holen? Zwei Mal? Drei? Er wusste es nicht. Sein Denken war... beschränkt. Anders konnte er es nicht nennen.
Wie lange würde das anhalten? Aber auch sein Empfinden für Zeit war den Bach runter. Nichts, woran er sich festhalten konnte. Vielleicht... sollte er einfach schlafen? Diesen... Zustand verschlafen? Der Gedanke festigte sich und er schloss die Augen. Es war nicht, das er den Schlaf suchte – es war zu laut um ihn herum, um wirklich diesen zu suchen. Schlaf kam wie er immer kam – auf leisen Pfoten unerkannt liess er das Bewusstsein in Dunkelheit versinken.
Wölfe... Einige Wölfe... sie rissen an ihrer Beute, einem alten Hirsch. Was ein prächtiges Geweih! Vielleicht konnte er später den Kopf abschlagen und mitnehmen... wenn die Knochen noch heil waren.
„Welch prächtiges Geweih... Du, das holen wir uns später!“ Er blickte bei den Worten zur Seite und war überrascht seinen Vater da zu sehen. „Vater...“ Was... warum... er war doch... was...?
„Guck nicht mich an, Junge, guck die Wölfe an.“ Die Hand des Vaters grösser als seine eigene.... seine eigene? Warum war sie so klein... so... jung?
Er fühlte wie die Hand des Vaters seinen Kopf in Richtung Wölfe drehte. „Gib acht, Junge! Du musst sie beobachten, wenn du sie jagen willst. Beobachten, von ihnen lernen. Du musst wissen, wie sie denken. Denn sie haben viel, was sie dich lehren können, ausser wie man sie jagt.“ Seines Vaters tiefe leise Stimme war einlullend. So stark. So warm. Sein Vater – er war der grösste Jäger weit und breit. So gut mit dem Bogen, das seine Dienste auf Handelstrecks gefragt waren! Ein warmes Gefühl überkam ihm jedesmal, wenn er an ihn dachte. Wieder linste er zu ihm hinüber und er fühlte Feuchtigkeit seine Wange hinab laufen. Was... Seine Hand reichte hoch und wischte die Feuchtigkeit fort. Was? Tränen? Warum de...
Sein Vater sprach weiter, wachsam zu den Wölfen blickend und gelegentlich auch die Umgebung sichernd „Wenn du sie verstehst, weisst du, wie sie denken. Weisst du, wie sie jagen. Weisst du, warum sie jagen. Du wirst verstehen, wie ein Wolf zu denken. Wenn du dies perfektionierst, wirst du quasi zu einem Wolf in Menschengestalt...“
Cole runzelte die Stirn. Der letzte Satz... war das wirklich etwas, das sein Vater mal gesagt hatte? Er war sich nicht sicher. Aber gehorsam blickte er wieder nach vorne zu den Wölfen... Wölfe verstehen... Wie sie denken.... Quasi ein Wolf sein... Zu einem Wolf... werden...
„Komm, Cole. Ich zeig dir, wie Wölfe durch den Wald laufen. Den Wolfstrott. Damit kannst du lange Zeit laufen...“ Sein Vater lief vorran und er lief hintendrein. Büsche und junge Bäume kamen ihm entgegen und Zweige wischten im ins Gesicht. Feuchtigkeit hing träge in der Luft und wurde zu Nebel, während sein Vater vorranlief... und schliesslich nicht mehr zu sehen war...
Und Cole lief.... lief den Wolfstrott... Rennen... gehen... Rennen... gehen... Rennen... Raumgreifende Schritte. Die Welt verwischte in Grün. Äste und Blätter stoben hinter ihm davon, wo er entlang rannte... Die Geschwindigkeit, der Wind. Der Rausch seines Herzens, während seine Pfoten weit ausgriffen. Pfoten...? Achja... Wolf... er war ein Wolf... Warum rannte er? Was verfolgte er? Spuren von Hufeisen auf dem feuchten Boden. Seine Nase schnoberte durch die Blätter über den Boden. Aye.. Er konnte es riechen. Das Pferd. Das Metall. Den Menschen, der darauf ritt. Säuerlicher Geruch von Schweiss und billigem Fusel. Leder und andere Metall. Eisen, Kupfer, Silber... Süsslicher Duft nach etwas, das vage ein Gesicht in seinem Geist entstehen liess – Schmerz. Sein Herz schmerzte und er stiess ein Jaulen aus, das in lautem Geheul endete. Warum war ihm zum Weinen? Warum... Aber nein, das war nicht der Weg des Wolfes.... Wölfe lebten im Jetzt. Wölfe jagten. Er jagte. Er musste diesen Menschen erwischen. Diesen Mann. Bevor es zu spät war. Bevor er weg war... Bevor er flüchten konnte? Flüchten? Wovor? Ihm...? Aye... Er floh vor ihm... Wieder verwischte das Land, während er rannte. Dem Mann hinterher rannte. Er musste sich eilen! Er musste ihn erwischen! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals! Seine Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, während er den Mann verfolgte, rasend schnell. Er konnte die Hufe des Pferdes auf dem Boden trommeln hören. Es musste nah sein, so nah. Ein Knurren entrang sich seiner Kehle, während er rannte und ein Antwortknurren kam von der Seite. Wölfe liefen mit ihm. Nein, nicht Wölfe... Wolfshunde... Doch Wölfe...? Er wusste es nicht, aber er wusste, wer sie waren. Seine Gefährten, sein Pack!
Sie liefen. Und heulten. Und rannten den Wildpfad entlang durch den Thalwald. Rannten und brachen aus dem Wald. Felder... Futterrüben standen in Reih und Glied. Er kannte den Weg. Kannte Pfad am Feld entlang. Hier abbiegen und an dem Pferch vorbei mit den Ochsen. Das abendliche Licht aus dem Haus war so milde. Der Duft aus dem Haus sprach von Abendessen. Und der süsse Duft war auch hier. Was war es nur gewesen? Etwas, das so sehr nach Heimat roch... Hunde kamen aus dem Haus. Seine Packgefährten! Tacheles! Rollo und Nox! Sie kamen ihm entgegen und begrüssten ihn! So lange...! So lange her...! Wo? Wo war seine Schwester? Wo war seine Mutter? Seine Mutter! Das war der süsse Geruch! Seine Mutter! Er musste sie finden, er musste... Der grosse Wolf, der er war, rannte mit einem Satz zur offenen Türe und... blieb stehen. Blut... es roch so schwer nach Blut. Was war das?! Er winselte leise und schaute sich nach seinen Gefährten um. Ein Fiepen und er zog den Schwanz ein, als er erkannte, das sie alle am Boden lagen. Blutend, ihre Kehlen durchgeschnitten. Was... was war passiert? Warum...? Nein... er musste sie finden, seine Mutter...! Er lief in das Haus, folgte dem süssen Geruch, der fast ertränkt wurde von dem schweren Gestank nach vergossenem Blut. Wo war sie? Wo... Ah... da... die halboffene Türe...
Geh nicht hinein...
Aber er musste – sie war da. Sie war im Schlafzimmer.
Geh nicht! Da ist nur Schmerz... Schmerz? Was für ein Schmerz? Der Gestank nach Blut irriertierte ihn, verwirrte ihn. Etwas war überhaupt nicht in Ordnung hier...
Unsicher bewegte er sich ins Zimmer. Und was auf dem Boden aufsetzte, war keine Pfote, sondern ein Fuss. Seine Sicht, die eben noch tiefer lag – Wolfstief – war nun viel höher. Nicht seine bekannte Höhe – er war immer noch jung.... Grossgewachsen, schlacksig. Der Rahmen, der viel versprach noch unausgefüllt.
Sein Blick fiel auf das Bett und er hielt inne. Hielt inne. Wie sein Atem. Wie sein Herzschlag. Denn was er auf dem Bett sah, war seine Mutter. Ihre Honiggelbe Bluse. Aye... es war sie. Aber sie war so... unbewegt... leblos. Und er wusste... Erinnerte sich... Warum er nicht in diesen Raum wollte. Nicht in diesen Raum. Nicht in dieser Situation. Sie war tot... Soviel Blut auf dem Bett. Der Geruch des Todes an ihr haftend. Tod... Ihr Schädel eingeschlagen. Ihre Augen leer. Er war zu spät. Zu spät... Sie starb... weil er Minuten nur zu spät war. Cole öffnete den Mund. Tränen schossen ihm aus den Augen, während er „Nein... nein....“ stammelte, dann schrie. Und schrie. Und schrie.
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Animas Noctis - von Aygo Vandokir - 13.02.2014, 19:48
RE: Animas Noctis - von Aygo Vandokir - 23.03.2014, 21:39
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RE: Animas Noctis - von Aki Durán - 30.09.2020, 14:29



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