FSK-18 Voyeur
#12
Marionette


Seine Finger sind träge geworden und hängen nach unten, als würden sie fallenden Regen nach ahmen. Die Daumen stehen leicht ab und zucken gelegentlich. Das Seil hält den Körper in der aufrechten Position, obwohl bereits jeder Muskel nachgegeben hat. Wäre da nicht der zarte, zittrige Atem, der den flachen Bauch hebt und senkt, könnte man den Mann für tot halten. Da er aber lebendig ist, hängt er wie eine Marionette in den Seilen. Daher stammt wohl der Ausdruck, wenn man nach einer durchzechten Nacht in den Seilen hängt.
Aki ist der Beobachter und Strippenzieher, Genießer und Peiniger.  Er umrundet in Ruhe den Hängenden und versucht sich an dem Moment in vollen Zügen zu ergötzen. Es sind die kleinen Details, die dem Körper die perfekte Form und Wirkung geben. Eine zarte Schicht aus glänzendem Schweiß bedeckt die mager ausgeprägten, blassen Muskeln und erzeugt immer wieder einen Schauer, der ein sinnliches Beben auslöst. Die Haare sind zerwühlt und vereinzelte Strähnen kleben in dem Gesicht, obwohl der Besitzer sonst so eitel ist. Ein sachtes Hecheln kommt über die vollen Lippen, die gerötet und wund sind. Sein Gespiele kommt langsam zur Besinnung, aber es bleibt noch ausreichend Zeit, um den sinnlichen Anblick auszukosten.
Die schlanken Hüften winden sich und entlocken dem Besitzer einem wimmernden Laut. Bestimmt hat der Mann die teils blutigen Striemen an seinem Hinterteil nicht vergessen, deswegen schätzt Aki, dass er sich ebenfalls an dem Schmerz labt. Oder er besitzt die Kulanz, dem Voyeur etwas fürs Auge zu bieten. Die tiefen, roten Kratzer schmücken die helle Haut besonders schön. Es ist lange her, dass er etwas so Stimmiges und Vollkommenes gesehen hat. Aber er möchte die anderen nicht durch den Dreck ziehen, die vor ihm gebaumelt haben. Ob Mann oder Frau, sie besitzen alle ihre besondere Würze. Aber es gibt nur wenige, die seine Faszination in voller Intensität wecken. Die zierliche und schlanke Gestalt des Mannes weckt seinen Beschützerinstinkt, der überaus unangebracht ist, wenn man bedenkt, welchen Schaden er selbst anrichtet.
Sicherlich trägt auch die gemeinsame Vergangenheit einen Teil zur empfundenen Hingabe bei. Erst, wenn man jemanden verliert, weiß man zu schätzen, was man an ihm hat. Nun, wo er wieder hier hängt, ausgeliefert und fügsam, fühlt es sich an, wie der erste Regen nach langer Dürre. Er wäre nicht so vermessen gewesen zu glauben, dass er je zurück findet. »Du hast mich erschaffen, Aki«, ruft er sich die Worte ins Gedächtnis und muss grinsen.
Jeder Eindruck verstärkt sich bei einer zweiten Gelegenheit, fast als wäre man dem Tod entrungen. Er schmeckt und riecht noch besser, er schreit und zappelt noch schöner, er fühlt sich anders an, wie das Verderben höchstpersönlich. Liegt es daran, dass sich die Körper bereits kennen und einst mit der gleichen Frequenz geschwungen haben? Alles fühlt sich unbekannt und neu an, obwohl es nicht die erste Berührung ist und doch hat es sich im Laufe der Jahre verändert. Die Zeit, die man voneinander entfernt verbringt, schafft frische Neugierde. Doch wie lange wird sie halten?

[Bild: b5xefkgv.png]

Wie lange wird es halten? Er öffnet die Augen und sieht sich im leeren Bett um. Vermutlich ist Aki nochmal eingeschlafen und hat nicht bemerkt, wie er aufgebrochen ist. Mit einem schweren Seufzen richtet er sich auf und sucht seine Kleidung zusammen. Fremde Betten missfallen ihm.
Es ist noch früh am Tag und deshalb ruhig auf den Straßen. Aki streift durch die, einst so vertrauten Gassen Löwensteins und sieht sich um. Er beobachtet, spioniert, schnüffelt und observiert. In der Bäckerei lässt sich die Konditorin von einem Kesselflicker besteigen, der auf der Durchreise ist. Vor dem edlen Kelch, der einst ein beliebter Treffpunkt war, hockt ein stinkender Kerl auf der Fensterlaibung und ertränkt bereits am frühen Morgen seinen Kummer. In der Schmiede arbeitet Tom, ein ehemaliger Bekannter gewissenhaft. Die Straßen stinken nach Kanal und die Hitze staut sich zwischen den Steinbauten. Aki fragt sich wie er hier leben kann, wo er doch ein Hygienenarr ist, der Seinesgleichen sucht. Er kann sich noch erinnern, wie er ihn berührt hat, nachdem seine Finger angeblich eine Frau beglückt haben. Er hat sich im Badehaus mit einer Bürste krebsrot geschrubbt. Du findest sogar seine Zwangsneurosen interessant? Jetzt hör aber auf..
Seine Schritte tragen ihn in die Neustadt und er findet sich vor Rahel's Haus wieder. Unterwegs wurde er beachtet, als wäre er Geist, also überhaupt nicht. Vermutlich schert sich die Kirche längst nicht mehr um seinen Namen und das Pergament mit der Belohnung ist bereits zu Staub zerfallen. Aki beugt sich zu einer der blühenden Rosen hin und streicht über die zarten Blütenblätter. Für einen Moment ertappt er sich dabei, erstaunt zu sein, denn seine Gedanken finden nicht zu Rahel. So lange hatte sie in seinem Kopf gespukt, aber mittlerweile empfindet er nicht mehr das Bedürfnis ihr nach zu stellen.
»Warum guckst du denn so besorgt?«
»Es ist nur so Lange her ...«
»Ich renne nicht weg«, verspricht er.
Aki streicht in Gedanken mit dem Daumen über die Rose und trennt ein Blütenblatt ab. Wie doch alles so zerbrechlich ist. Er muss jeden Handgriff zügeln, jedes Wort und jedes Verlangen. Und das, obwohl alles in ihm nach mehr schreit.
»Noch kannst du rennen«, wiederholt seine Stimme in seinem Kopf.
»Rennen? Nein. Du hast doch schon eine Leine an mir.« Die Stimme ist devot und dünn und doch so wohlklingend. Es ist die Stimmlage, die seine Begierde nährt.
»So schnell?«
»Deine Schuld. Der heutige Abend war's.«
Aki sieht nochmals an dem Buchbinderladen empor. Vielleicht ist es so simpel. So wie er eine Schwäche für Schmiede hat, sind es bei ihm vielleicht die Buchbinder. Er besinnt sich zum Aufbruch, denn an ihm zieht eine unsichtbare Hand. Zu gerne würde er den Weg einfach zurück gehen. Seine Gier schreit nach mehr, aber er darf ihr nicht nachgeben. Das Blütenblatt ist noch zu zart und er will es möglichst lange erhalten. Morgen ist auch noch ein Tag, bis dahin ist das eine Blatt sicherlich nachgewachsen.

[Bild: zeq5gmjs.jpg]
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Voyeur - von orikson - 27.10.2013, 14:33
RE: Voyeur - von orikson - 30.10.2013, 14:18
RE: Voyeur - von orikson - 31.10.2013, 13:26
RE: Voyeur - von Aki Durán - 14.11.2013, 14:48
RE: Voyeur - von Aki Durán - 26.11.2013, 13:38
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RE: Voyeur - von Aki Durán - 25.02.2015, 14:25
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Träume - von Aki Durán - 15.10.2015, 14:53
Die Gehörnte - von Aki Durán - 01.12.2015, 12:48
Marionette - von Aki Durán - 19.06.2016, 23:03
Kontrolle - von Aki Durán - 26.09.2016, 18:11
Nähe - von Aki Durán - 26.11.2016, 21:03
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RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.02.2017, 21:00
RE: Voyeur - von Aki Durán - 09.07.2017, 13:24
RE: Voyeur - von Aki Durán - 02.12.2017, 15:29
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RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.07.2018, 17:09



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