Götterreisen
#19
Nur auf dem Pfad der Nacht erreicht man die Morgenröte.

War dies Schlaf und Traum? Oder der Rausch der Kräuter, die sie zu sich genommen hatte?

Dunkelheit umhüllt sie. Erst zart, wie ein kühler Lufthauch, dann gerade soviel, wie ein dünnes Seidentuch, das sie bedeckt. Doch sie schreitet fort, als senke das Firmament - die Dunkelheit zwischen den Sternen, an mondlosen Tagen - sich langsam und unaufhaltsam auf sie. Es nimmt ihr die Sicht. Es nimmt alle Geräusche mit sich. Es nimmt ihr den Geruch. Es nimmt ihr den Geschmack. Es nimmt ihr das Gefühl der Haut. Es nimmt ihr die Luft zum atmen. Es drückt sich auf sie, bis der Herzschlag nur noch ein leises, langsames Pochen ist. Es nimmt ihr den letzten Lebenshauch. War das der Tod?

Dunkelheit

Stille

Taubheit

Nichts

Aus weiter, weiter Ferne das leise Rauschen der Wellen an den Strand. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Ein tiefer, nach Luft ringender Atemzug und die Welt um sie herum explodiert in einem Farbenrausch, einem Kaldeidoskop aus Bildern und Bilderfetzen, als sähe sie die ganze Welt und die Vergangenheit im Bruchteil einer Sekunde. Worte, Musik, Gebrüll, Lärm, Vogelgezwitscher, Meeresrauschen - alle Töne die sie je gehört hatte, erklingen im Bruchteil einer Sekunde und doch kann sie alle unterscheiden. Alle Gerüche und Geschmäcker, alles was sie je auf ihrer Haut gespürt hatte, sanftes wie schmerzvolles, all dies spürt sie für die Dauer eines Atemzuges.

Und dann versinkt sie in Bildern, Geräuschen und Sinneseindrücken, die sie erfahren hat, oder die schlicht in ihrer Phantasie entstanden sind:

Sie hörte feines Lautenspiel. Ein Lied erklingt, das sie Marlene zum Schlafen vorsingt:

In meines Vaters Garten –
blühe mein Herz, blüh auf –
in meines Vaters Garten
stand ein schattiger Apfelbaum –
Süsser Traum –
stand ein schattiger Apfelbaum. ...

Abrupt endet das Lied, Marlene beginnt zu schreien, ein dunkler Schatten legte sich auf Mutter und Kind. Für einen kurzen Moment schießt das Bild des Blutmondes in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.


Die Szenerie ändert sich schlagartig:

Rabenstein

Die Tore zum Strand sind verschlossen, Kampfgetümmel ist an den Mauern zu hören. Vom Eingang zur Strasse hin dringen mehr und mehr rotgewandete Gestalten in das Dorf, wie eine unaufhaltsame Flut, die Tod und Verderben mit sich bringt. Sie hat Marlene auf dem Arm und flieht zum Steinkreis hinauf. Eine Stimme ertönt in ihrem Kopf, eine tiefe Frauenstimme: "Gib sie mir und ich werde euch retten!" Das Bild der schrecklich schönen Herrin Morrigú tanzt durch ihren Kopf und wie unter Zwang geht sie zum Opferschrein, legt Marlene darauf und hält sie mit der linken Hand ruhig, summt leise und beruhigend auf das kleine, ängstlich blickende Mädchen herab, als die rechte Hand das Jagdmesser aus der Scheide zieht. Wie in Trance umgreifen beide Hände den Dolch und heben sich an, schweben für eine Sekunde über dem Kind. "Sei ruhig, mein Fröschlein, es ist gleich vorbei", summt die Mutter sanft, ehe die Hände mit dem Dolch zum tödlichen Streich herabsinken.

Eine hohe, schrille Stimme kichert in ihrem Kopf "Du bist drauf reingefallen! Umsonst getan! Umsonst getan!"

Die Bilder ertrinken in einer gigantischen Welle aus Wut, Trauer, Raserei und Blut.


Zweitürmen.

Das kleine Bauernhaus, das schon vor dem Bau des Dorfes in der Nähe des Weges stand. Inara ist dort. Eine Welle von Trauer, Schmerz und Verlust überschwemmt sie, als sie ihre dunkle Schwester vor sich sieht. Sie reicht ihr einen Trank. Er ist bitter und schmeckt furchtbar. Sie legt sich ins Bett und sieht das kleine Mädchen, das so anders ist, als Marlene. So fremd und doch so vertraut. Sieht noch einmal den großen Mann, mit dem sie sich eine Zukunft erträumt hatte, vor langer Zeit. Der sie verraten hatte und einfach fortgegangen war. Und dann wird dieser kurze Moment durch Schmerzen und Blut zerrissen. Vorbei und doch nie vergessen. Ihre Tochter ist tot. Ihre Erstgeborene.

"Mörderin! Mörderin! Mörderin! skandiert die hohe Stimme.


Sie treibt weiter, Bild folgt auf Bild, wie die Perlen auf einer Kette. Nach und nach werden sie fahler, als habe man sie zu oft gewaschen. Die Farben bleichen aus. Alles wird sanfter, leiser und dann hört sie die altbekannte Stimme Carls: "Ihr könnt tun, was ihr wollt, aber niemals wird es ... " Noch ehe der Satz zu Ende gesprochen ist, treibt sie weiter, als fahre sie in einem kleinen Boot einen langsam fließenden Fluss hinunter, hinein in die Dunkelheit. Doch es ist die beruhigende und erholsame Dunkelheit des Schlafes, die sie nun umfängt. Das silberne Mondlicht dringt durch die Fenster und ihr ist beinahe so, als streiche ihr jemand mit silberhellen Fingern tröstend über das Haar.

Nur auf dem Pfad der Dunkelheit erreicht man die Morgenröte.
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Götterreisen - von Magdalena - 25.09.2013, 16:21
RE: Buße - von Magdalena - 26.09.2013, 17:39
RE: Buße - von Magdalena - 29.09.2013, 12:59
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