De profundis clamavi ad te, domine
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Als in einem der Bücher die ich zuletzt las, der avantgardistische Intellektuelle Dietrich, an der Reihe ist, seine Rede zu halten, gliedert er sie, ohne das eigens zu begründen, nach den vier Grundtugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. So selbstverständlich ist offenbar, für den Zeitgenossen, diese aus der frühesten Reflexion überkommene Denkform schon geworden – nicht allein der Begriff Tugend, welcher das Richtigsein des Menschen meint, sondern auch der Versuch, es in jenem vierfältigen Spektrum formulierbar zu machen. Diese gedankliche Struktur, die Aussageweise der Tugendlehre also, einer der großen Funde des menschlichen Selbstverständnisses, ist aus dem Bewusstsein nie mehr verschwunden. Sie ist geradezu in seinen elementaren Bestand eingegangen – und dies auf Grund einer jahrhundertelang durchgehaltenen Denkbemühung, an welcher sämtliche Ursprungskräfte teilhaben.

Dies ist zwar gleichfalls eine legitime, sogar verehrungswürdige und wohl auch unentbehrliche Möglichkeit, das Sollen des Menschen auszusprechen. Aber eine Gebote- oder Pflichten-Lehre kommt natürlicherweise leicht in die Gefahr, beziehungslos Forderungen zu verkünden und dabei den Menschen selbst, der da etwas soll, aus dem Auge zu verlieren. Die Tugendlehre hingegen spricht, gleichfalls natürlicherweise, ausdrücklich von eben diesem Menschen, und zwar sowohl von dem schöpfungshaften Sein, das er bereits mitbringt, wie auch von dem Sein, zu dessen Realisierung er emporgedeihen soll – indem er klug, gerecht, tapfer, maßvoll ist. Dieser Gestalt der Sollenslehre ist von Natur alle reglementierende Einengung fremd; sie hat es im Gegenteil gerade darauf abgesehen, einen Weg freizugeben und eine Bahn zu eröffnen.

Jenes Viergespann der Grundtugenden nämlich, von dem ein schon altertümliches Wort sagt, es vermöge den Menschen in das Äußerste seines eigenen Seinkönnens zu führen. Begreiflicherweise hat auf diesem Felde Originalität des Gedankens und der Diktion nur wenig zu bedeuten. Es ist doch kaum zu erwarten, dass über einen solchen Gegenstand völlig neue Einsichten sollten zutage gefördert werden. Anderseits besitzt für die Erkenntnis der Realität des Menschen die „Weisheit der Alten“ eine faktisch unerschöpfte Aktualität. Und es ist genau die Absicht dieses Buches gewesen, hiervon etwas sichtbar werden zu lassen.

Jeder Mensch sollte dem Anderen helfen, nur so verbessern wir das Reich.

Tugendhaft sollten wir sein.

Wir sollten am Glück des Anderen teilhaben und nicht einander verabscheuen.

Hass und Verachtung bringen uns niemals näher.

Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben lernen.

Die Habgier hat schon oft das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt.

Die Klugheit hat uns ab und an hochmütig werden lassen und unser Wissen kalt und hart, wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig. Aber zuerst kommt die Menschlichkeit.

Vor Klugheit und Wissen kommt Güte.

Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert.

Die Berufung auf dieses Idealbild ist es auch, wodurch sich für den nachgeborenen Interpreten das Risiko der Lächerlichkeit ergibt, dass er sich nämlich schämt, ein Menschenbild zu zeichnen, vor dessen Maßstab die alltägliche eigene Existenz tausendfach versagt.
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RE: De profundis clamavi ad te, domine - von Alexander Bernau - 12.01.2016, 15:14



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