FSK-18 Der Sturmrufer
#16
Die beiden Gefährten hatten sich entschieden, dass sie ihren Weg noch einmal verlängern würden, indem sie eine von Nortgards Bergspitzen, das Mantelauge, nicht über dessen Pass hinter sich lassen würden, sondern es auf einem weit weniger genutzten und unwegsameren Pfad umrundeten. Und was zunächst wie eine gute Idee geklungen hatte, entpuppte sich jedoch bereits nach dem ersten Tag der Wanderschaft als ein Tanz mit den Göttern.

Ein Schneesturm war aufgezogen und hatte nicht nur die weitere Kälte mit sich gebracht, sondern auch die Sichtweite gefährlich reduziert. Das Mantelauge hatte seinen Blick auf die beiden Streiter gerichtet und blies erbarmungslos auf die Nordkrieger herab, als wolle es sie für ihre Unverfrorenheit, länger als nötig in der Eiswüste des Nordens zu verweilen, strafen.

Und der Sturm hatte noch lange nicht vor, abzuklingen. Ein Heulen aus der Ferne hob an, das Lied des Windes, so wunderschön, dass schon so mancher den Tod in dem eisigen Griff eines Sturmes fand, weil der Gesang der Naturgewalt ihn förmlich paralyisierte, bis das Eis seine Glieder vollständig durchdrungen hatte. Der Himmel sang, die Krieger trotzten und in der Ferne antwortete ein vierbeiniger Verfolger dem Ruf der Schneefolter. Frye und Skaskar erstarrten auf den zweiten Ruf, das zweite Heulen aus der Welt der Lebenden, das dem Tod bezeugte, was hier zu holen war. Während so mancher in diesem Augenblick möglicherweise Panik und Todesangst verspürt hätte, blickten die beiden Krieger weder missmutig, noch angstvoll in die weiße Flut vor ihnen – nein, sie erstarrten, hoben ihre Köpfe und sahen, nach einem kurzen Blickwechsel in das weiße Treiben um sie herum. Eine Aufwogen, warm, die Sinne schärfend und die feuchten Nackenhaare aufrichtend, durchfuhr Skaskar – das Gefühl, dass einen beschleicht, wenn man von Feinden umringt ist, ohne sie zu sehen, von der Sicherheit erfasst, ein Gejagter, eine Beute zu sein. Der Blickwechsel mit Frye sagte ihm, dass sie ebenso empfand – und was wie eine todbringende Eingebung wirken musste, stärkte beide Krieger. Denn irgendwo in diesem Schneetreiben war etwas, dass man bekämpfen konnte, ganz im Gegensatz zu der sie umhüllenden Naturgewalt. In diesem Kampf, erschwert durch der Götter Willen, lag Ehre und – so die Götter auch das wollten – ein glorreicher Tod.

Sie beide rückten enger zusammen, packten einander an den Armen und suchten den Weg zur Felswand, der besten Möglichkeit auf eine Spalte oder einen Höhleneingang, der ihnen die Gelegenheit geben würde, das Unwetter zu überstehen. Kein Wort drang über die Lippen des Zweigespanns, als sie sich der Felswand näherten, der Schemen im Gestöber der weißen Gewalt sich immer deutlicher abzeichnete. Die Kälte begann bereits durch die Kleidung und an ihre Leiber zu dringen, während sich sowohl Frye als auch Skaskar immer wieder wachsam umsahen, während das Heulen sie unablässig weiter besang. Eine Todesfee in weißem Kleid lud förmlich zu einer Hochzeit, in der Leben und Tod sich vermengen und noch in der gleichen Nacht einen furchtbaren Spross zeugen würden, wenn sie nicht bald eine Möglichkeit fanden, Schutz zu suchen.

Skaskar spürte, wie Fryes Hand seinen Arm stärker umgriff, sich förmlich in ihn hineinkrallte. Sie wusste, genau wie er, dass dies ihre letzten Augenblicke miteinander sein könnten, bevor sie zu kalten Statuen im Schnee – oder Wolfsfutter – werden würden. Und doch gab es keine Angst, nicht einmal jetzt. Skaskar hatte, nachdem er die Reise im Wissen begann, dass er die Bindung zu seinen Ursprüngen verloren glaubte, wieder zurück zu seiner Heimat gefunden. Sein ganzer Leib bäumte sich unter der auf ihn eindringenden Witterung auf und konnte vor allem deutlich machen, dass er niemals kampflos aufgeben würde. Wenn er sterben würde, war er es der Wille von Göttern und Land, denen er sich, kleine sterbliche Kreatur, die er war, nicht entgegenstellen konnte.

„Wolf..!“ riss der laute, in den Wind gebellte Ruf seiner Begleiterin des Kriegers Kopf zur Seite. Frye, die selbst im dichten Schneegestöber bessere Augen bewies, war, zum Ziel eines sich schnell nähernden Schemen geworden, den Skaskar mit Mühe ebenfalls als Vierbeiner identifizierte. Es blieb nicht viel Zeit für eine Absprache oder dergleichen und da Skaskar an den Armen deutlich mehr Rüstzeug besaß als Frye, riss er sie zur Seite und brachte seinen Arm auf Höhe des auf ihn zuhechtenden Tieres. Sich selbst verfluchend, dass er zu langsam reagiert und somit nicht mehr genügend Zeit zum Ziehen einer Waffe gehabt hatte, drückte er dem Tier den Unterarm förmlich in den Kiefer. Der weißfellige und auffällig abgemagerte Vierbeiner verbiss sich sofort in den Arm des Kriegers. Die Reißzähne durchdrangen die bereits geschundene Rüstung an einigen ramponierten Stellen. Ein erneutes Aufwallen, warm und einem Weckruf gleich, schoss durch seine Glieder, von dem Arm ausgehend. Skaskar hob den Arm und damit auch den verzweifelt an seiner Beute festhaltenden Vierbeiner leicht an und brachte den Arm im Anschluss in einer starken Schleuderbewegung in Gegenrichtung – erfolglos.

Der Vierbeiner hing weiter am Arm des Kriegers, knurrte sogar noch beharrlich – ein Augenblick in dem sich der Blick des Tieres und der Blick des Kriegers trafen, zwei Kinder des Nordens, so unbeugsam wie furchtlos und absolut sicher, dass keiner von beiden nachgeben würde. Es war dieser eine Augenblick, in dem der Sturm für einen Moment vergessen geglaubt, der aufkeimende Schmerz im Arm nicht existent und die Zeit dieser Welt angehalten schien und zwei so verschiedene Kreaturen und doch verwandte Seelen einander im Kampf um das jeweils eigene Überleben begegneten, bis ein Dolch von Skaskars Seite, geführt durch seine Gefährtin, das Fell des Tieres durchdrang und es aufjaulend abspringen ließ. Seine Gefährtin griff selten in derartige Kämpfe ein und auch hier hatte sie dem Tier keine lebensbedrohliche Wunde beigebracht. Es war ein oberflächlicher Schnitt gewesen, kaum genug um die dicke Haut des Tieres tief zu durchdringen – aber möglicherweise genug, um beiden die Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit bringen.

Während der Wolf wieder mit dem Schneegestöber verschmolz, übernahm Frye die Führung – denn Skaskar richtete den Blick nach wie vor immer wieder in die Richtung, in die das Tier verschwunden war. Wäre es gnädiger gewesen, dem abgemagerten Wolf direkt das Lebenslicht zu nehmen? Die blutigen Rinnsale, die sich aus den kleinen, punktierten Wunden den Weg an die Luft suchten und die Haut brennen ließen, vermittelten ein Gefühl, als hätte er etwas unerledigt gelassen oder schlimmer, als hätte er zwei Dinge voneinander entfernt, die eigentlich gottgewollt zusammengeführt worden waren.

Als Skaskar seinen Blick wieder nach vorne richten wollte und die Gedanken an die kurzlebige Begegnung mit dem einsamen Jäger wieder dem Überlebenswillen Vorzug gaben, erstarrte er erneut und riss Frye einmal mehr zu sich. „Warte!“ herrschte er seine Begleiterin an, als sich der Krieger der Felswand etwas weiter näherte. Durch den dichten Mantel aus miteinander verwobenen Flocken lugte etwas, das nach Holz aussah. Mit der Hand des unverletzten Armes begann Skaskar zwischen zwei Bretter zu greifen und tatsächlich löste sich bald schon morsches Holz. Die beiden Streiter wechselten erneut und hastig Blicke, als sie begannen, den Eingang einer alten Mine freizulegen.

Das Heulen und Tosen des Sturmes ebbte zusehens ab, je weiter die beiden Wanderer in die Mine eindrangen. Bislang wirkten zumindest der Eingangsbereich und eine Abzweigung direkt dahinter stabil und trocken genug, um ihnen als Unterschlupf und Nachtlager zu dienen. Außerdem gab es auch keine Hinweise auf Bären oder sonstige Wildtiere – was angesichts des vernagelten Einganges auch ein Wunder gewesen wäre. Und die Überreste einer alten Lore enthielten sogar genug Holz, um daraus ein kleines Feuer zu entfachten, dass zumindest eine Weile etwas Wärme spenden würde.

Während Frye das Feuer entfachte, begann Skaskar auf dem improvisierten Nachtlager die Reste seines Rüstzeuges zu entfernen, die vorher seinen Arm bedeckt hatten. Der Wolf war in der Tat nicht weit durchgedrungen. Der Krieger entzweite einige Stofffetzen und wollte sich soeben daraus eine improvisierte Bandage fertigen, als sich eine Hand seiner Gefährtin auf den Unterarm legte.

„Warte.“ sprach Frye gedämpft. Die Stimme, umrahmt vom fernen Tosen des Sturms, hatte etwas ruhiges, sogar sanftes. Skaskar blickte zunächst nur auf die Hand seiner Begleiterin, ehe er die Situation in ihren Augen zu taxieren versuchte. Frye hingegen, lächelte nur auf eine so vielsagende und so weise Art und Weise, während sie sich eine durch den Sturm gelöste Strähne aus dem Gesicht strich, neben ihm auf die Knie ging und die Finger unter den verletzten Arm legte. Anschließend brachte sie ihre Lippen auf die Wunden. Zunächst sog Frye, zweckmässig und pragmatisch veranlagt, das was sich an Wolfsspeichel noch aus den Wunden gewinnen ließ und spuckte die Masse aus Blut, eigenem und Wolfsspeichel beiseite. Dennoch setzte Frye erneut an, diesmal jedoch sanfter den verletzten Arm des Kriegers mit ihren Lippen und geschlossenen Augen liebkosend, ehe sie letztere öffnete und zu Skaskar hinauf blickte, nur um kurz darauf fast schon neckisch in den Arm zu beissen und eine leichte Schmerzwoge durch seinen Körper zu senden.

Und während die Jägerin und der Krieger im Begriff waren, sich einander hinzugeben, sang der Himmel weiter unablässig sein Lied – wenngleich darin nun etwas enttäuschtes mitschwang, denn mindestens zwei Seelen waren seiner Einladung nicht gefolgt und nur eine blieb noch übrig, die auf vier Pfoten, geschwächt und verletzt dem vagen Lichtschein folgte, der durch das dichte Gestöber am Rande des Berges auszumachen war.

[Bild: snowstormaa.jpg]
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