FSK-18 Der Sturmrufer
#15
Die Tage flossen förmlich dahin und ließen den Winter wie eine flüchtige Gezeit im Wechselspiel vom Hoch und Nieder der Jahreszeiten wirken, als des Hartung Tage sich dem Ende neigten und somit auch die dichtesten Schneestürme des Winters langsam verebbten und der klaren Sicht über das weite Land wichen. Skaskar lernte noch immer jeden Tag von Frye. Das Band seiner Heimat hatte wieder in seinem inneren zu pulsieren begonnen, wie ein zweites Herz. Das Schlagen übertönte die leere Hülle, als die er wiedergekommen war und in die er irgendwann wieder – ohne es jetzt schon zu wissen – zurückkehren würde. Bislang hatte sich der Krieger keine Gedanken mehr darüber gemacht, was aus jenen geworden war, die er zurückgelassen hatte und wenn er es heute tat, dann waren es Momente flüchtiger Verschwendung, die ihm wie etwas vorkamen, mit dem man sich selbst bei dem bloßen Gedanken daran nicht mehr beschäftigen wollte.

Frye hingegen hatte die Geschichten aus Servano und Löwenstein, dem Ursprung allen Übels, wie sie es für sich sehr treffend nannte, am Lagerfeuer wie die Erzählungen fremder Welten aufgenommen, in denen Dinge möglich sein konnten, die einem in der Heimat weder sinnvoll noch zweckdienlich erschienen. Sie beide wussten, dass auch in Nortgard die Körner in den Sanduhren seit vielen hundert Jahren anders liefen und selbst hier, in dem letzten Lehen, welches sich seine ursprüngliche Stärke bis zum Ende bewahrt hatte, bis der falsche Flammengötze Einzug gehalten und sie mit ihrer falschen Ordnung zu vergiften gesucht hatte. Das schlimme daran war, dass mitunter gute Menschen, ansonsten wahre Nortgarder, dieser widersinnigen Religion folgten und selbst Frye und Skaskar erkannt hatten, dass es wenig Sinn haben würde, offen gegen die Ordnung eines Königs zu rebellieren, der sich auf den Roten berief – denn am Ende, das musste man anerkennen, hatte er die alte Ordnung zu Fall bringen können. Dass die neue Fürstin Nortgards sich offen dagegen bekannt hatte, hatte jedoch Hoffnung aufkommen lassen. Nicht nur, dass die stolzen Männer und Frauen der Berge irgendwann ihre Unabhängigkeit wiedererhalten könnten, sondern dass auch der Einfluss des roten Giftes zurückgehen würde, weil man sich vielleicht auf die Pfade der wahren, der alten Götter besann.

Skaskar hatte dieser Tage oft die Geschichte von seinem Bruder erzählen müssen und wie sich ihm die Kräfte offenbarten, die ihn für immer an die alten Pfade banden. Frye hörte die Geschichte gerne und erklärte immer wieder, dass sie der beste Beweis dafür war, dass die Götter dem alten Blut Norgards stets wohlgesonnen sein und nicht vergessen würden, wie tapfer sie für ihr Reich und die alten Pfade stritten und es, wenn auch weniger offensichtlich, noch heute tun. Ihr Weg hatte sie beide bereits in den letzten Tagen wieder näher an Eisenheim herangeführt, wenngleich sie bis zur gemeinsamen Heimat noch viele Tagesmärsche vor sich gehabt hätten – selbst auf dem direkten Weg, den sie offensichtlich nicht nahmen. Obwohl die Schwäche der Flachländer erst aus seinen Knochen weichen musste, hatte der Streiter stets gewusst wo sie waren. Es waren an den ersten Tagen zwar nur verschwommene Erinnerungen der längst vergangenen Jugend gewesen, in denen sein Milizdienst in Eisenheim ihn nicht so oft an sein Dorf gebunden hatte, aber dennoch erinnerte er sich. So wusste er auch, dass Frye ihn zum Feld der begrabenen Seelen führte, einem Ort der, so erzählte man sich, nicht vielen unter diesem Namen bekannt war, diese wenigen dafür aber umso energischer darum stritten, ob es nun ein geweihter Ort der alten Götter oder des roten Emporkömmlings war.

Einer alten Sage nach, von der Frye und Skaskar nur mutmaßen konnten, wie weit sie überhaupt innerhalb Nortgards verbreitet war, befand sich an diesem Ort ursprünglich eine alte Stätte eines Druidenzirkels, welcher dem roten Emporkömmling zu Zeiten der Eingliederung Nortgards nicht nur mit Skepsis sondern auch offener Verachtung entgegentrat. Wenngleich es nie zu offenen, kriegerischen Auseinandersetzungen kam, die in Nortgard ohnehin zwischen den verschiedenen Lagern des Glaubens selten bis nonexistent waren, so baten sie an diesem Ort, dem Fuße eines alten Berges, von dem man sagte dass er einer der ersten war, welcher der Schöpfung entsprang, täglich darum, dass Sulis Mithras von seinem blasphemischen Thron stoßen und sich den Aspekt der Sonne und des Feuers wieder gänzlich zu eigen machen sollte. An einem schicksalshaften Abend jedoch, soll es ein einzelner Mithras-Priester gewagt haben, in den Kreis der versammelten Mondwächter zu treten und beim Antlitz seines flammenden Herrn geschworen haben, dass die Zeit der alten Götter vorüber und Mithras das einzig ware Licht gegen die Dunkelheit der Vergangenheit sei.

Bevor ein Druide reagieren konnte, so sagt man, habe der Berg selbst zu antworten begonnen, da sich sein Antlitz auftat und aus zahllosen Spalten seines steinernen Leibes Flammen und Fels emporgeschleudert wurden. Von der Macht der Naturgewalt schier überwältigt, weigerten sich sowohl Mondwächter als auch der einzelne Mithras-Priester, den Ort zu räumen, sahen sie dies doch beide als Zeichen ihres eigenen Götter- bzw. Gottvertrauens. Und während sich nach dem ersten Ausbruch noch geschmolzenes Gestein seinen Weg durch den Schnee schmolz und alle Druiden wie auch den Priester überrollte, beteten beide Gruppen inständig darum, der jeweils als Ketzer entlarvten Gegenseite das Lebenslicht auszublasen.

Ob es dieses Ereignis tatsächlich gegeben hat, vermag in der Tat keiner mehr genau zu sagen, da es weder Zeugen, noch schriftliche Überlieferungen eines solchen Ereignissen gab und man auch von keinem Zirkel berichten kann, der an jenem Ort jemals Fuß gefasst hatte. So blieb stets auch die Frage offen, wer denn in diesem Streit nun recht gehabt und wessen göttlicher Segen hier jetzt tatsächlich federführend gewesen sein mochte – wenn überhaupt. Einzig die merkwürdig schwarzen Gesteinsformationen am Berg, die auch im tiefsten Winter keinen Schnee tragen, lassen darauf schließen, dass unter dem Berg eine Hitze schlummert, für die es keine offenkundige Erklärung gibt, wenngleich Anhänger der Sage – und so auch Skaskar und Frye – davon überzeugt sind, dass es die flammenden Seelen der geopferten Druiden sind, die noch heute hier begraben sind. Sie zu entfesseln jedoch, so fürchten jene, welche diese seltene Erzählung weitertragen, würde auch ihren unbändigen Hass auf die Welt bringen, müssten sie doch sehen, dass Mithras noch immer in nahezu allen Lehen thront und seine Ordnung weiterhin als die Welt bestimmend anerkannt wird.

Als der Krieger und die Jägerin das Feld der begrabenen Seelen erreichten, trugen sie je eine tote Ziege auf den Armen, die sie dem Land entrissen hatten um ihre Leiber dem höheren Wohl der alten Pfade zu opfern. Wortlos und hinwendungsvoll ließen sie die Leiber am Hals ausbluten und auf das schwarze Gestein fließen, das sich, wie schwarze Beulen einer kranken, sterbenden Welt aus dem Schnee emporhob. Die Krankheit jedoch, da waren sich die beiden sicher, waren nicht die alten Pfade, sondern die Schwäche, die der Rote erst wieder in der Welt gestattet hatte.

„Ich weiß nicht wie Du es in diesem Blenderlehen ausgehalten hast.“ entgegnete Frye als sie das Feld auf der Suche nach einer Unterkunft wieder verließen. „Wir können froh sein, dass die Rotroben hier in Nortgard nicht so aggressiv sind, wie in Löwenstein, sonst müssten wir hier viele Friedhöfe anlegen – für Anhänger beider Glauben.“ Skaskar ließ ihre Worte in den Rücken der beiden Gefährten wandern und nahm sich betont viel Zeit für eine Antwort:“Du kennst Mithras-Anhänger, die gute Menschen sind, Frye. Genau wie ich. Beinahe jeder Bruder, den ich im Bund fand, sogar eine Erwählte des Roten, waren alles gute Menschen. Sie wurden nur in die falschen Familien geboren und haben entschieden, einer Lüge zu folgen. Wenn ihre Welt irgendwann brennt, werden sie sehen, dass ein Weg auf dem Pfad des Roten niemals ein Weg nach vorne ist. Und wenn sie das erkannt haben – wer wäre ich, ihnen die Möglichkeit zu versagen, sich vor unseren Göttern erneut zu beweisen? Sie sind wie Kinder, die noch lernen müssen, dass manche Beeren giftig sind und andere widerum sehr nahrhaft.“

Eine lange Pause folgte, wenngleich die Gesichtszüge der Jägerin, das dezente Lächeln des sonst konzentriert voranblickenden Ausdrucks, der kurze, aber vertraute Blick zur Seite, verstehen und sogar – und das war seit ihrem Aufeinandertreffen seltener – auch Erkenntnis andeuteten. Sie hatte eine andere Sicht auf die Dinge der Welt gelernt, die ihr in den Tiefen der eisigen Wildnis verborgen geblieben war und die man nur erlernen konnte, wenn man mit den Roten in ihrer Heimat getanzt hatte. „Ich hoffe, das bedeutet nicht dass du ihre Anwesenheit auf dem Antlitz unserer Heimat gutheißt, Skaskar.“ erwiederte sie schließlich, wobei der Wortlaut hörbar prüfende Töne angenommen hatte. „Sei' nicht albern.“ erwiederte Skaskar rasch. „Jeder Tag, an dem eine Rotrobe über unseren Boden schreitet, ist eine Beleidigung für die Götter, diejenigen die ihnen folgen und diejenigen, die sich der Zeit besannen, in denen Nortgard keinem König folgen musste, der in der Ferne Kriege führt. Aber wie schnell wäre mein Rabenschnabel ohne seinen Herrn, wenn ich jede Rotrobe in Hammerhall erschlagen würde, die ich sehe?“

Ein zufriedenes und ausnahmsweise ausgelassenes, leises Lachen ertönte als Frye seine Worte abnickte. Das Seelenfeld rückte mit jedem Schritt in weitere Ferne während sich die beiden Gefährten weiter scherzhaft über das Für- und Wider einer vollständigen Auslöschung jedes Mithras-Dieners in Nortgard ergingen. Einer der Vorteile, wenn man sich in einer Wildnis bewegte, sie so kalt und so lebensfeindlich war, dass man nur als jemand der dort aufgewachsen ist die Torheit besitzen konnte, sich im Winter dort hinauszuwagen, hatte hierbei mitunter auch seine Vorteile. Denn hätte ein Mithras-Diener, oder auch nur ein gesetzestreuerer Bürger diese Worte mitbekommen, so hätten die diversen, blasphemischen Äußerungen der beiden Nortgarder vermutlich Konsequenzen gehabt. Glücklicherweise, so betonten die Kreise derer, die wie die beiden Gefährten dachten, schien Mithras Licht nur dort, wo es jene gab, die seine Fackeln auch halten wollten. Das bedeutete jedoch nicht, dass die anderen Orte deshalb in Dunkelheit versanken, sondern nur dass das Licht dort nicht den Verstand der Gläubigen zu blenden versuchte.

Und obgleich dieser Tag wenige Ereignisse mit sich brachte, die später als Vorlage für weitere Legenden in den Tavernen Nortgards dienen sollten, hatte das Band des Kriegers und der Jägerin Stärkung erfahren, wenngleich beide wussten, dass sich ihre Reise – eine Pilgerfahrt durch die eisige Welt ihrer Heimat, sich langsam dem Ende neigte. Es war das diffuse Gefühl, das einen beschleicht, wenn einem bei Speis' und Trank am Feuer mit guten Freunden und vielen Geschichten klar wird, dass man diesen Moment nicht ewig wird festhalten können, diesen Moment, indem die Welt mit sich und ihren Bewohnern im Einklang scheint und dass der kommende Morgen wieder eine neue Realität bringen wird, in der jeder seine eigenen Lasten und Probleme schultern muss. Frye und Skaskar wussten, dass sie bald nach Eisenheim zurückkehren würden und keiner konnte genau abschätzen wie sie nach diesen Tagen der Einkehr mit der Welt außerhalb der frostigen Einöde umgehen würden, so verändert wie sie beide aus dieser kleinen Reise hervorgehen würden.

Dass die Reise jedoch noch einige Hürden für sie bereithalten würde, das hofften sie beide inständig. Denn noch war der Winter kalt und der Schnee beständig. Während der Weg der beiden sie also weiter durch die Landschaft ihrer Heimat auf der Suche nach einem Nachtlager führte, bemerkte keiner von beiden, nicht einmal Frye, die sonst so aufmerksame Jägerin, dass ihnen seit dem Feld der begrabenen Seelen beständig ein Begleiter auf vier Pfoten folgte und jeden ihrer Schritte aufmerksam beobachtete.

[Bild: wolf-snow-live-wallpaper-892636-1-s-307x512.jpgg]
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