FSK-18 Der Sturmrufer
#8
Der Regen, der den heraufgezogenen Morgen wie ein sanfter Vorhang, ein halbweißer Seidenschleier zu beiden Seiten der Pfade Servanos säumte, hatte erstmals nach den warmen Mondläufen keinen Zweifel daran gelassen, dass das Klima umzuschlagen begann. Vielleicht würde es nochmals ein kurzes Aufbaumen der warmen Gezeiten geben - Mithras solle daran ersticken – und dem Volk, dass sich in die Wärme floh, wie ängstliche Nager in ihre Bauten, wenn ein großes Raubtier in der Nähe war, ein Aufflammen der Hoffnung zu ermöglichen, dass die kalten Monde noch weiter auf sich warten ließen. Aber Skaskar Sturmschlag wusste, dass das Rad der Gezeiten sich unbarmherzig weiterdrehte, unbeeindruckt von den schwächlichen Befindlichkeiten der Menschen. Es hatte, so stellte der Krieger auf seinem Weg in die Berge des Südwalds fest, nicht viel mit Zufall zu tun, dass Nortgard nun einmal das beste Schlachtenmaterial – an Mensch und Stahl gleichermaßen – stellte. Nicht nur, dass das Blut der Ulgard noch immer kochend heiß durch die Adern derer floss, die sich weigerten, ihr Erbe abzuschütteln. Vielmehr wurden sie auch täglich von ihrem Lehen, ihrer Heimat geprüft und beurteilt.

Selbst die warmen Monde konnten nicht viel Wärme spenden, je nachdem in welchen Höhen man sich herumtreiben musste und die kalten Mondläufe hätte wahrscheinlich jeden Mann oder jede Frau eines anderen Lehens den einen oder anderen Zeh oder Finger einbüßen lassen, bis Klarheit in ihren von Schmutz und Gestank der Kleinstädterei vernebelten Schädeln einkehrte. Die Zeit dort wirkte nun wie in weite Ferne gerückt, beinahe in zu weite Ferne, wie er fand. Die Auszeit, die er im Bund aufbegehrt hatte, war ein sinnvoller Schachzug im Widerstreit mit seinem inneren Kontrahenten gewesen, einer der ihm einerseits Luft zum Atmen schenkte, Lungen die sich nach der kühlen Bergluft verzehrten, die es hier genausowenig gab wie die Treue zu Mythen und Sagen, unter denen er im fernen Norden aufgewachsen war. In vielerlei Hinsicht wirkte der Schleier aus weichen Tropfen um ihn herum wie ein schattenhaftes Stück von Heimat, als blende er schemenhaft die längst bekannten Teile des Lehens aus, die ansonsten perfekt kartographiert und erforscht schienen.

Die Schritte des gerüsteten Streiters erklommen zielgerichtet und mit einer festen Bestimmtheit das Bergland des Südwaldes und weckten dabei, stets das regenverhangene Servano unter sich im Blick des Kriegers, die Erinnerung daran, wie wenig die Menschen Nortgards doch über die entlegensten, unwirtlichsten Winkel der Berge wussten, aber gleichwohl vollständig zufrieden mit diesem Zustand waren. Sie wussten, dass diese Teile des Landes die Heimat für vielleicht wundersame, vielleicht grausame Kreaturen waren, Figuren aus Sagen und Mythen, die nicht ohne Grund in Abgeschiedenheit, fernab der Menschen lebten. Es hatte den Anschein, als wüsste jeder Nortgarder im Herzen, dass diese Wesen verschwinden würden, breitete sich das Volk in diese Winkel aus. Ein aufkeimender Gedanke korrigierte den Krieger beinahe unmittelbar nach diesem Gedanken:“Nicht verschwinden, nur flüchten, in eine Tasche dieser Welt, in die wir nicht greifen können.“ Alleine der Gedanke, ohne den Quell vieler Geschichten, die seine Kindheit begleitet hatten, ein Dasein auf dieser Welt zu fristen, löste ein schmerzvolles Stechen in seiner Brust aus und hieß den Krieger anzuhalten und erneut seinen Blick in die Ferne schweifen. Ein kurzer Windhauch, als sei der seidenwässrige Schleier kurz aus seinem Gleichklang gebracht worden, benetzte Skaskars ohnehin feuchtes Gesicht und förderte ein Lächeln auf seinen Zügen zu Tage. Mehr noch, er hob sein Kinn leicht, als sei dies eine liebkosende Bewegung gewesen, ein ferner Handstrich aus der Vergangenheit, der ihn für die Einkehr zu belohnen suchte und ihm zu verstehen gab, dass sein Erbe ihn nicht vergessen hatte, nun da er sich nicht erneut in Ketten hatte legen lassen. Weder vom Bund, noch von Löwenstein.

Nachdem sein Weg ihn weiter geführt hatte, hinauf zu der alten Ruine, auf deren Stufen er sich setzte und über das sich vor ihm erstreckende Land blickte, wirkte der Streiter, in völliger Ignoranz der mittlerweile in sein Unterkleid einziehenden Kälte und Nässe, zufrieden. Die Stelle erinnerte ihn an den Felsvorsprung, den er in seiner Heimat entdeckt hatte, der Vorsprung, der ihm den Blick über die Schönheit Nortgards ermöglichte und so mancher Zeiten der Platz gewesen war, an dem seine besten Gedanken Form angenommen hatten. Er war ein Mann der Berge, egal wo es Skaskar Sturmschlag hinzog. Der feste, felsige Stein war ein Teil seines Körpers, tief in seinem Fleisch verankert und unfähig – unwillig – dieser wundervollen Tatsache zu entsagen. In den Bergmassiven seiner Heimat lag so viel Wahr- und auch Weisheit, dass es unmöglich erschien, sich davon lösen zu können, selbst wenn man es wollte. Ob die Menschen, die so nah' am endlosen Meer wohnten, ähnlich dachten? Der Krieger konnte es sich, angesichts der Welt, die wohl unter der See liegen mochte, vorstellen. Wasser. Geheimnisvoll wie der tiefe Stein der Berge. Und doch so unbarmherzig und gleichzeitig vollkommen weich. Faszinierend, wie Skaskar Sturmschlag befand. Sein Blick verfolgte im Sturm dieser Gedanken das Aufplatzen der Regentropfen auf dem Boden, während viele weitere Tropfen ihren Weg noch vor sich hatten, getragen von Wind und Gewicht, bis das Pantheon wieder beschloss, den Schleier wieder zu lüften und die Welt wieder zu dem ekelerregend schrecklichen Ort zu machen, der sie war – zumindest was Servano betraf.

Ein fernes Donnergrollen kündigte jedoch an, dass dieser Augenblick noch auf sich warten lassen würde. Ein Lächeln zu dem fernen Zucken von Blitzen im heraufziehenden Wolkengewirr, als Skaskar Sturmschlag begann, in einem trockenen Bereich der Ruinen Schutz zu suchen.

[Bild: IMG_5623.JPG]G
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