FSK-18 Der Sturmrufer
#7
Die gewohnte Fassade vom geschäftigen Treiben Löwensteins hatte es schon oft vermocht, Skaskar das Gefühl zu geben, dass in dieser Stadt eben doch nicht alles so bis in die Wurzeln verdorben war, wie es ihm oftmals erschien. Auch an diesem Morgen ertappte er sich dabei, wie das Treiben von vorbeirumpelnden Marktkarren, ihre Waren anpreisenden Händlern und in Eile hastenden Stadtmenschen ihm kurz das Gefühl gab, in einer völlig normalen Stadt zu sein. Der Gedanke schien sich auch nach einem längeren Marsch durch die Stadt nicht verflüchtigen zu wollen, als grabschte eine unbeholfene Hand nach dem in seinem Schädel eingesperrten Wissen in dem Bestreben es vor dem Streiter zu verstecken und ihn zu einer weiteren, seelenlosen Hülle dieser Totenschmiede zu machen. Als wäre dieses Gefühl eine greifbare Sache, vollführte der Krieger eine wegwischende Geste, so wie man auch eine lästige Fliege verscheucht, die nicht einsehen will, dass es am lebenden Menschen nichts zu holen gibt.

„Noch hast du mich nicht umgebracht, Löwenstein...“ stahl sich ein weiterer Gedanke in seinen Schädel, der sich anfühlte, als hätte man ihn in einen Schreibstock gezwängt. Skaskar schien jedoch bestätigt, dass sowohl Geste auch als Gedankendialog dazu führten, dass die grabschende, fette, fleischige Hand vorerst abgelassen hatte und sein Wissen und seine Seele sich wieder etwas Zeit erkauft hatten. Wo jedoch das Gefühl von Freiheit einkehren sollte, als habe man ihm ein schweres Gewicht von den Lungen genommen, drehte sich das Gedankenkarussel weiter. Die Erleichterung blieb ein ferner Wunsch, ein Verlangen, ein Herbeisehnen sogar und selbst der Blick auf das Meer, den er als passablen Ersatz für seine Heimat befunden hatte, seit seine Gefährtin ihm von der darunter liegenden Welt erzählt hatte, wollte ihm nicht einmal den Hauch von Ruhe und Einkehr schenken.

Es war anstrengend der Außenwelt, seinen Brüdern und Schwestern im Bund der wachenden Schwerter und auch Kristin, die beim Pantheon selbst genug Probleme hatte, das vorzuenthalten, was sich langsam als Entschluss zu manifestieren begann. Der Weggang Merandors hatte die Führung des Bundes auf mehrere Schultern verlagert und natürlich waren Vegard und Askir bestrebt, immer voran, immer vorwärts mit dem alten Orden zu gehen. Skaskar hingegen, war sich nicht sicher, ob das tatsächlich auch sein Weg sein würde. Das Verschwinden von Arys hatte geschmerzt, vielleicht sogar mehr als das von Merandor. Dennoch fühlte sich sein plötzlicher Wechsel zur Kirche des Mithras an, als hätte man ein Loch in die Fassade des Bundes und tatsächlich auch in sein eigenes Mauerwerk, welches eigentlich Stabilität bringen sollte, geschlagen. Letztlich hatte sich alles überschlagen und zwar derart schnell, dass Skaskar nur am Rande wahrgenommen hatte, dass seine Gefährtin irgendeine Art von Vertrag mit den Jehanns eingegangen war. Er war nicht einmal dazu gekommen, sie dazu genauer zu befragen. Das Gedankenkarussel begann sich schneller zu drehen, ging nun mit Schwindel einher. Skaskar bemerkte beinahe zu spät, dass die Welt um ihn herum zu schwanken begann und der kalte Stein der Brüstung, an der er nun mit dem Rücken hinab zu Boden rutschte, fühlte sich wie ein unbarmherziger, distanzierter Griff an, der sagen wollte:“Sieh genau hin, ich lasse nicht zu, dass Du die Augen schließen kannst, egal wie schlimm es aussieht.“

Dass der Streiter nun selbst seine Augen schloss, half nicht. Im Gegenteil drehte sich das Karussel, nun mehr einem Sturm auf hoher See gleich, noch schneller und sein Magen befand, dass es genau der richtige Zeitpunkt wäre, um ihm das Gefühl zu geben, sein Inhalt werde mit Gewalt von einer zur anderen Magenwand gedreht, nahezu umgegraben. Skaskar glaubte, seine Hand auszustrecken, nach Kristin, nach seiner Familie, nach seiner Heimat. Irgendeiner musste sie nun ergreifen, dem gefallenen Krieger aufhelfen – aber auch nach einer Myriade von Augenblicken, in denen er sich blind und am Boden glaubte, war da niemand. Natürlich nicht. Er war an diesen Ort geflüchtet und wusste bei diesem Gedanken zum ersten mal nicht sicher, ob damit dieser Platz im neuen Hafen oder sogar seine Reise von Nortgard nach Servano gemeint war und bislang stets nur von der Liebe zum nördlichen Lehen überschattet wurde. Schwärze begann sich in dem lichtlosen Dunkel unter seinen Augenlidern auszubreiten, eine Schwärze die das Dunkel darunter sogar noch sichtbar überschatten konnte und erstmals begann das Karussel in weite Ferne zu rücken. Die Geräuschwelt um ihn herum begann leiser zu werden, als seien sie die Beigabe einer fernen Traumwelt, in der Skaskar nur Beobachter war. Die Gerüche begannen stumpf und fahl zu werden, als verloren sie ihre Farbe. Der leichte Wind, der hier immer am Wasser wehte, hielt inne und ereiferte sich, einer drückenden Hitze Platz zu machen, die dem Krieger schließlich auch die Luft dick und schwer machte. Als Skaskar Sturmschlag merkte, dass die Ohnmacht ihn gänzlich in ihren Fängen hatte und nicht mehr loslassen würde, begann er mit allen Gliedmaßen zu rudern, als könnte er sich an ein Ufer aus der schwarzen See retten, die sich um seine Gedankenwelt schloss und ihn unbarmherzig in ihre Tiefe zog.

Was dort unten lag, wollte der Krieger nicht wissen, hatte nie das Bedürfnis danach gehabt. Auch jetzt hatte er das Gefühl, dass etwas dort unten lauerte, während sein Körper Signale sandte, als würde er immer weiter in eine diffuse, schwarze Tiefe gezogen, in der es nichts für die Welt der Tagwesen gab und selbst Löwenstein wirkte auf einmal wie ein Ort des Friedens und der Eintracht gegenüber der Panik und der Abscheu gegenüber dem, was dort unten lauerte und vermutlich schon immer gewartet hatte. Der Krieger sehnte sich zurück, der flehende Blick dorthin, was er für die Oberfläche hielt, enthielt den unausgesprochenen und vor allem unerfüllten Wunsch, aus dieser Geistesfolter erlöst zu werden. Ungehört. Unbeachtet. Die Barmherzigkeit wie die Luft aus seinen Lungen nach einem schweren Leberhaken gewichen und einzig Hoffnungslosigkeit blieb an dem einsamen Ort, den seine Seele nun einforderte.

Einzig seine Finger begannen, das Gefühl zu vermitteln, der Streiter würde steinernes Mauerwerk mit den Kuppen berühren. Ein zunächst vertrautes Gefühl, das von Heimat sprach. Von guten Gedanken, die in dem Moment, da sie sich aus der diffusen Schwärze heraus manifestieren wollten, mit der Fassade, die er berührt hatte, zu bröckeln begannen. Erneut das aufwogende Gefühl von Panik und Hilflosigkeit und der absurde Gedanke, das steinerne Bröckeln rühre von seinem Gesicht her und bald wäre nichts mehr als der unter der Haut liegende Knochen übrig, wenn er nichts unternehmen würde. Aber der Krieger konnte nichts unternehmen und das Gefühl von losem Geröll, welches ihm durch die erlahmten Finger glitt, schien von einer Unendlichkeit beseelt, während die angenehmen Gedanken seiner Vergangenheit in weiter Ferne und unerreichbar blieben. Wie enttäuschte Eltern schienen sie ihn zu betrachten, während sein steinernes Antlitz - ja, es musste wirklich sein Gesicht sein – weiter durch seine Finger glitt, in eine Leere, die unwiderbringlichen Verlust bedeutete. Unter dieser Kruste jedoch, begann der Streiter mit wachsendem Erschrecken wieder Leben zu erspüren, ein rotes Pulsieren, verlangend, dominant und fürchterlich hungrig. Es war die Wiederkehr einer Abbitte, wie er fürchtete, vielleicht sogar die Strafe dafür, dass er zu wenig Leidenschaft für das Geschenk entwickelt hatte, was man ihm zuteil werden ließ. Die Frage, ob Tiere noch genug der Gabe waren, führte zu einem Gefühl, als ohrfeigte ihn irgendetwas sofort für diese Frage und die Antwort, die gleich darauf an die Stelle der Frage trat, ging mit einem Moment der Resignation und Aufgabe einher, einem kurzen Augenblick in dem das Strampeln endete und Skaskar erstmals das Gefühl hatte, das Lauern würde für die Dauer dieses Augenblicks von ihm ablassen und ihm einen Moment der Ruhe gewähren – vermutlich um zu Begreifen.

Ein Reißen begann seinen Körper zu erfassen als der Moment mit grausamer Gewalt aus seinem Kopf getriebe wurde. Der Krieger brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass es tatsächlich sein Körper und kein weiteres Traum(Trug-)bild war, welches mit seiner Gedankenwelt Schindluder trieb. Etwas griff nach ihm, nach der Kleidung an seinem Körper und erneut stieg der Krieger die schweren Stufen eines tiefen Schlafes hinauf um zu begreifen, dass er sich noch immer im alten Hafen befinden würde. Der Wind begann wieder anzuheben, als sei er gewillt, diese Vermutung zu bestätigen. Das ferne Kreischen der Möwen wirkte alarmierend für den Krieger, der unter Aufbietung vermeintlich titanischer Kräfte seine Augen aufriss um in den überraschten Blick eines Mannes zu sehen, der einen Beutel, Skaskars Münzbeutel, in der Hand hielt, in der anderen einen Dolch. Der feige Diebstahl war etwas, das ihm die Verderbtheit der Stadt zwar vor Augen führte, der Dolch jedoch, ließ dem Krieger keine Möglichkeit, sich auch nur ansatzweise an diesen, ersten Gedanken zu klammern. Das Rot in seinem Innern, das Pulsieren, stieg gewaltsam nach vorne, führte seine Hand mit einer fürchterlichen Freude, als die kraftvolle Hand des Streiters das Handgelenk des Diebes ergriff, ihm das Werkzeug entwandt und anschließend die andere Hand um die Kehle des jungen Mannes zu legen begann. Überraschung wich Furcht, während der kraftvolle Griff des Kriegers den Körper an seinem Hals zu Boden rang und Skaskar sich auf den Oberkörper setzte, den jungen Leib zu Boden drücken, während seine Hand an der Kehle sich für den Hauch eines Augenblickes zurückzog, nur um anschließend mit geballter Faust im Gesicht zu landen, sich anschließend mit seiner anderen Faust abwechselnd. Immer wieder sausten die Fäuste des Streiters nieder auf denjenigen, der nun zum Opfer ward. Jeder weitere Schlag begann das Gesicht aus dem Körper des Diebes zu treiben, nahmen ihm jegliche Möglichkeit, sein Befinden über die veränderte Situation auszudrücken und letztlich vollführte der Krieger an seinem Opfer die wundersame Verwandlung, die aus einem festen Körper eine ungeformte Masse gemacht hatte, die langsam die Fugen zwischen den Steinplatten des Neuen Hafens zu füllen. Zufriedenheit war das letzte Gefühl, das Skaskar empfand, bevor die Schwärze erneut Besitz von ihm begriff, nur um ihn kurz darauf tatsächlich aufwachen zu lassen.

Der Krieger realisierte mit wachsender Irritiation, dass die Geschehnisse nichts weiter als Träume gewesen waren, während seine Hand alarmiert an seinen Münzbeutel am Gurt griff und dort tatsächlich eine Hand ertasten konnte. Erneut der überraschte Blick eines – des? - Diebes, der sich soeben am darnieder liegenden Skaskar bereichern wollte. Die Überraschung jedoch, dass dieser offensichtlich während der Tat erwacht war, reichte aus, um den Tagedieb das Weite suchen zu lassen. Wortlos, angstvoll. Erneut das Gefühl einer von Dominanz und Stärke geprägten Zufriedenheit, eine Empfindung, die Skaskar nun, da er wieder zu Sinnen kam, wieder Angst zu machen schien. Eine Angst, die er vorerst wieder einsperren und niederzurren musste, genau wie das Raubtier, das sie verursachte.

Erst als Skaskar den neuen Hafen verlassen und sich wieder in das Treiben von Löwensteins Stadtkern begeben hatte, bemerkte er, dass seine Kopfschmerzen, das Gefühl in einem Schraubstock gefangen zu sein und die Atemnot verschwunden waren.
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