Jagd' den Wind und beühr' den Himmel
#2
Das Fest der drei Welten

I

Die Idee erschien ihr originell und gut, die im Goldenen Raben zum Anlass dieses Freudenfestes des Frühlings organisiert wurde - ein gemeinschaftliches Backen von Süßspeisen nach traditioneller Art. Wessen Tradition auch immer das genau war, es wäre bestimmt lecker. Nur deshalb, und weil Magda auch dort sein wollte, die Ailis' Wege nun wieder desöfteren kreuzte, ein freundliches Wort auf den Lippen. Aber Termine zu beachten und pünktlich zu erscheinen, das hatte die Wald-Galatierin inzwischen zum großen Teil verlernt.
In aller Ruhe bereitete sich Ailis am Nachmittag des Ersten Tages auf ihr persönliches kleines Ritual des Abends vor. Drei Stunden lang - und auch hier galt die Zeitraum-Angabe nur ungefähr und wurde rein nach Gefühl festgelegt - streifte sie durch die Wälder Servanos und sammelte die untrüglichen Zeichen des Frühlings, die frischen, noch kleinen Pflanzen der Jahreszeit: die winziges, leuchtend gelben Dotterblumen; die ersten
Triebe und Spitzen der Brennesseln - noch klein, aber schon bissig; die letzten schönen Blätter des Wintergrün; die federartigen Blätter der noch
nicht blühenden Schafgarbe; und die ersten Blätter und zahnartigen gelben Blüten des Löwenzahn.

Es war an der erregten, munteren Stimmung der Vögel und Insekten, ja, der Bäume und Steine gar zu merken, wie Saft und Kraft aus der feuchten Erde und von den warmen Sonnenstrahlen den Wald und seine Bewohner neu erfüllten. Es war genauso, wie die Barden die Szenerie des Frühlings immer beschrieben: eine Aufbruchsstimmung, die Lust machte, Neues zu entdecken.

Ihren Eimer bis zum Rand mit dem frischen Grün gefüllt, unter dem anderen Arm ein Stoß Bruchholz, an der Hüfte ein Packen gebratenes Fleisch begab
Ailis sich zum auserwählten Ort für das kleine Zeremoniell. Sie kannte viele schöne Orte - jeder einzelne war etwas Besonderes und unterschied sich
in ihren Augen nicht von den, nun, "offiziellen Heiligen Orten" der Druiden - und für diesen Tag hatte sie sich einen kleinen Steinkreis an der Küste nahe der Grenze zu Candaria ausgesucht. Hier war wenig los, da der Handelsweg noch immer gesperrt. Hier gab es Erde, Himmel und Meer - denn an diesen Tagen waren alle Dreiheiten angemessen und wichtig.

Ailis trug alle ihre Talismane, die ihr um den Hals pendelten und immer wieder aneinander klapperten - Holz, Knochen, Horn. Sie ließ sich Zeit, die
richtigen Worte zu finden, die aus ihrem Herz zu den Göttern sprechen sollten: dann begann das Ritual.

Sie zündet in einer von Steinen umrahmten Erdkuhle gekonnt ein Feuer mit Hilfe des Bruchholzes an und schürt es, bis kleine Flammen darin tanzen, der Großteil aber Glut bleibt.

Sie legt das gebratene Fleisch, ihre Opfergabe, auf ein Tuch vor dem Feuer aus. Es sind genau acht Stücke, für jeden Faungott eines und eines für Ailis selbst.

Sie wirft Lavendelzweigchen auf die Flammen, die bald darauf einen wohlriechenden Rauch abgeben.
Sie fächelt den Rauch in die vier Himmelsrichtungen und spricht dazu:

"Götter des Faun,
ihr Vielgeprisenen,
die stetig schenken
und stetig verlangen.
Auch heute sage ich euch Dank!
Auch heute gebe ich Etwas zurück!

Freundin Epona,
du reitest wie der Wind durch die Wiesen
und bist doch so sanft wie die Ricke.

Ausgeglichener Nodons,
mutiger Krieger und treuer Heiler,
Beschützer der Familien.

Gwynn, du Glückskind,
stets strebst du danach deine Kunst zu verbessern
und zeigst uns die Freude am Spiel.

Ewig schaffender Lyon,
ständig rührst du deine Hände, stehst nicht still,
und du kennst die Wichtigkeit von Geld.

Einsamer Chronos,
Erster Angler, Herr der Fische,
reiß uns nicht in deine Fluten.

Meine Herrin Artio,
du wilde Seite des Waldes,
starke und geschickte Bärin.

Berauschender Branwen,
Gehörnter Mann der Wildnis,
du scherst dich nicht um Regeln.

Euch alle lade ich ein,
speist hier mit mir
und nehmt meine Verehrung an!"


Ailis teilte die gesammelten Kräuter in sieben Haufen, von denen sie einen den Flammen zutrug, die anderen aber im mit gebrachten Eimer mischte und zum Mitnehmen vorbereitete. Dann setzte sie sich nieder und nahm - gemeinsam mit den Göttern - ihre Mahlzeit ein. Nachdem sie selbst gegessen hatte, begrub sie die sieben restlichen gebratenen Fleischstücke vor dem Lagerfeuer in der Erde und legte sich zum Wachen zwischen zwei der Steine.
Diese Nacht würde sie genau hier verbringen...
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RE: Jagd' den Wind und beühr' den Himmel - von Ailís Maguire - 28.03.2014, 10:23



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