FSK-18 Himmelgrau
#1
Widerlich. Einfach widerlich ist das.

Es war keine leichte Aufgabe, das Blut von der sauberen, faltenfreien Kleidung fern zu halten, vor allem nicht in der Dunkelheit. Ein Glück, dass der kleine Singvogel sich so leicht fangen und erdrosseln hatte lassen, denn ansonsten wäre Orestes' Laune noch tiefer gesunken. Durch den Wald kriechen wie ein Erdhörnchen, schmutzige, vermilbte Tiere anfassen, und das auch noch ohne Handschuhe, und sie dann - als wäre die Situation in sich nicht schon schlimm genug - auch noch mit sich zurück in die Stadt tragen zu müssen hatte er sich vor zwei Monaten im Traum nicht als eine mögliche Zukunft ausgemalt.
Einzig die Nacht und deren Dunkelheit war sein Freund, und verbarg ihn vor den Blicken Anderer. Bei einer solch erniedrigenden Tätigkeit auch noch beobachtet zu werden, hätte wohl dem Fass seines Unbills den Boden ausgeschlagen, ihn zum Gespött der Bourgeoisie gemacht, ihn das Gesicht gekostet, oder noch viel schlimmer: Ihn am Ende auf eine Stufe mit dem Pöbel gestellt.
Mit gekräuster Nase zog Orestes seinen Dolch, das einzige Familienerbstück, das er noch nicht unter der Hand verscherbeln hatte müssen, um seine Reise zu finanzieren, und machte sich daran, die ekelerregenderen Teile des toten Tiers abzuschneiden, namentlich den Kopf, die Klauen, und das Gekröse. Irgendwo in der Finsternis knackte ein Zweig, und ließ den Schwarzhaarigen mit zornstechendem Blick, blutigen Händen und gezücktem, blutigem Dolch aufsehen.
Stille.
Einige ereignislose Momente später wandte er seine unwillige Aufmerksamkeit wieder dem Vogel zu, und beendete seine Arbeit. Oh, mit dem Vorgang des Tötens oder dem Blut an sich hatte Orestes wahrlich keinen Kummer, daran lag seine Abneigung gegenüber seiner erzwungenen nächtlichen Tätigkeit sicherlich nicht.
Eher schon war es die empörende Notwendigkeit, überhaupt einen Finger krümmen zu müssen, um sein Auskommen zu finden, die ihn nicht nur des Nachts aus der Stadt trieb, sondern auch dazu zwang, sich die Hände auf diese Art zu beflecken.
Das trocknende Blut an seinen Fingern wollte ihn am liebsten alles hinwerfen und ohne Beute ins nächste Badehaus verschwinden lassen. Recht würde es dem schmutzigen Vieh geschehen, aber nach dem Rauswurf aus der Herberge am Marktplatz war der Gedanke an eine Nacht in schmutzigeren Quartieren mehr als ausreichend Motivation dazu, mit den widrigen Umständen zu leben. Es galt, die Form zu wahren, und solange niemand heraus fand, wie es dazu gekommen war, waren ihm - vorerst - alle Mittel dazu recht.
Den blutigen Kadaver in einer Hand, den blutigen Dolch in der anderen, erhob er sich und marschierte bedächtig zur nahen Flussquelle. Heißes Wasser wäre nun besser gewesen, und vielleicht auch ein großes Stück Seife, aber eine ordentliche Waschung konnte er immer noch nachholen, wenn er seine beschämende Beute verscherbelt hatte, und wieder in seinem gemütlichen Zimmer saß.

Was man tut, ist völlig bedeutungslos. Was andere sehen ist es, was uns definiert.

Orestes hatte zu viele Bücher gelesen, um sich noch daran zu erinnern, aus welchem der vielen philosophischen, naturwissenschaftlichen und romantischen Werke er dieses Zitat aufgeschnappt hatte, aber es definierte nun seit gut vier Jahren sein Leben. Es hatte ihn dazu gebracht, seinen eigenen niederen Stand als Nebensächlichkeit abzutun - als Nieder wurde immerhin nur angesehen, wer sich auf eine solche Weise verhielt. Und es hatte ihn dazu gebracht, in den Schriften des Mithrasglaubens nach Lücken und Widersprüchen zu suchen, die ihn im Auge der Kirchenobrigkeit davon abgehalten hätten, die eigenen, bürgerlichen Bande in Silendir zu sprengen.
Sehr zu seiner Schadenfreude schien es zwar Usus, den eigenen Stand zu akzeptieren und damit zufrieden zu sein, nicht aber, welcher Stand dies zu sein hatte. Demnach war es schon damals eine leichte Wahl gewesen, sich einfach für den Stand eines Adeligen zu entscheiden, und fortan die Welt zu schlichten und zu ordnen, bis sie ihre Richtigkeit - und Orestes seinen Adelstitel - hatte. Von Erfolg war dieses Unterfangen schon in Silendir nicht gekrönt gewesen, wo er dem Spott der anderen wohlbetuchten Kinder ertragen hatte müssen, und den Spott der Kinder von Leibeigenen mit fruchtlosen Prügeln und gemeinen Streichen beantwortet hatte, aber eine andere Weisheit besagte doch, dass nur Ziele, für die man ringen und kämpfen musste, auch etwas wert waren.
Es gab wohl kaum etwas, für das man mehr kämpfen und ringen musste, als für einen Adelstitel. Der beste Weg dorthin aber war ein unbefleckter Ruf, und die regelrecht magisch wirkende Fähigkeit, Geld aus dem Nichts zu erschaffen. Man musste nur wissen, wie.

Adelig wird man nicht, man ist es. Zuerst im Willen, dann in der Wahrheit.

Der erste Schritt war ein gewisses Talent zum Nichtstun. Wer zuviel arbeitete und zuviel Tagewerk vollbrachte, hart schuftete und abends müde war, würde auf Festen und Bällen nie mehr als Fußvolk bleiben. Wer tagsüber lustwandeln konnte, abends rauschend zu feiern pflegte, und gleichzeitig in der Lage schien, Kirche und Welt zu finanzieren, der war es, den man mit Bewunderung ansah.
Der zweite Schritt war ein gewisses Auftreten. Sauber, gepflegt, mit ordentlichen Manieren, einer gönnerhaften Herablassung für jene von niederem Stand, gewählte Ausdrucksweise, und ordentliche Unterkunft. Für Manieren, Ausdrucksweise, Bildung und die Fähigkeit, selbst Höherrangige mit einer gewissen geduldigen Herablassung zu betrachten, hatten seine Eltern bereits von früher Kindheit an gesorgt. Für Sauberkeit, Gepflegtheit, Unterkunft und ordentliche Speise und Trank jedoch war Orestes spätestens seit seiner protestartigen Flucht aus Silendir selbst verantwortlich, und obschon der Plan, an der Akademie der Hermetik zu studieren, immer noch der hauptsächliche Grund für seine Reise nach Servano war, so verbrachte er noch einen Großteil seiner Tage dergestalt, dass er nachts heimlich, still und leise für ein gewisses Auskommen sorgte, bis zum Nachmittag schlief, und sodenn lustwandelte, um das beschämt erwirtschaftete Geld wieder zu verprassen.
Der dritte und letzte Schritt schließlich war die Fähigkeit, genau zur richtigen Stelle am richtigen Tag zu sein, und die richtige Tat durchzuführen. Man durfte nicht zu begierig wirken, aber auch nicht zu desinteressiert. Musste den Eindruck von Zuverlässigkeit erwecken, ohne dabei wie ein Postenheischer aufzutreten. Gelassen und in sich selbst ruhend wie ein Edelmann, hatte seine Mutter es umschrieben, und keinen Tag vergehen lassen, ohne Orestes auf Mängel und Unzulänglichkeiten in dieser letzten Kategorie hinzuweisen.

Die schändlichen Vögel waren in der Stadt rasch abgestoßen, ebenso die Quarze, die er in einer Mine gefunden hatte, und bald klimperte der Beutel wieder ausreichend, um sich eine weitere ausschweifende Nacht in der Taverne zu gönnen.
Erfolg war nicht eine Frage der Herkunft, sondern lediglich des Willens. Und Wille war etwas, das Orestes ohne Zweifel zuhauf hatte.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 22.06.2013, 02:55
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 25.07.2013, 23:18
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 31.08.2013, 18:08
RE: Himmelgrau - von orikson - 01.10.2013, 13:37
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 26.10.2013, 03:13
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 08.01.2014, 00:24
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 12.11.2013, 07:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 20.11.2013, 12:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 17.12.2013, 07:16
RE: Himmelgrau - von Sherion - 30.12.2013, 05:59
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 04.02.2014, 20:27
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 06.03.2014, 01:16
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 30.05.2014, 21:05
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 29.09.2014, 23:04
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 01.04.2015, 20:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 06.04.2015, 02:27
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 07.06.2015, 00:05
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 27.06.2015, 18:53
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 19.02.2016, 14:45
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 10.03.2016, 10:37
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 16.06.2016, 19:13
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2016, 22:06
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 26.06.2016, 19:23
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 12.09.2016, 02:21
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 18.09.2016, 23:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 29.10.2016, 05:36



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 2 Gast/Gäste