FSK-18 Himmelgrau
#21
Wenn das Grinsen weh tut, dann hast du es vielleicht übertrieben.
Die Straßen Löwensteins waren zu Beginn des Tauwetters ein gar trister Ort, voll von Pfützen, diesem sandigen, halb nassen, halb trockenen Schlamm, kleinen Tierleichen, die das Tauwetter nicht mehr erleben durften, und kahlen Bäumen. Sicherlich, die ersten Knospen streckten zögerlich ihre Fühler aus dem Holz, aber noch waren die Nächte zu kalt und das Wetter zu unstet, um eine wirkliche Frühjahrsblüte zu forcieren.
Es war wahrlich kein Wetter, um pfeifend und grinsend durch die Straßen zu ziehen, aber irgendein Scherbenhaufen in Orestes' Brust ließ ihn einfach keine andere Miene machen. Die letzten Wochen hatten seine Welt kippen, knicken und knittern lassen, das wohl, aber statt von der Kante zu rutschen und in irgendein bodenloses Loch zu fallen, hatte sein Verstand sich den Unebenheiten einfach angepasst. Und ähnliche Knicke in sein sonst so geradliniges Wesen geformt.
Da war Serbitar, der ihn seit Wochen mit dem verschreckten Blick eines vom Kanonendonner verschreckten Kriegshundes beäugt hatte. Jedes Zusammentreffen war irgendwie unangenehm gewesen, sei es weil der Baron ihm Befehle gegeben hatte, das Denken für ihn zu ergänzen, seine Meinung zu einem Thema gefordert hatte, das Orestes schon vor Ansprache zuwider gewesen war, oder seine Meinung ganz schlicht dort umschifft hatte, wo Orestes tatsächlich etwas ausrichten hätte können. Freundschaft, die auf Geschäftlichem - und sonst nichts - beruhte, war keine Freundschaft. Dazu gesellte sich die Verderbnis, die der ehemalige Baron, nun Lehensritter Servanos, über die einzige anständige Person in der Kirche gebracht hatte. Eine Hochwürden zu verführen, und das bevor er sie geehelicht hatte, unerhört!
Eylis, die neue Angetraute von Serbitar, war es nun auch, die Orestes in die nächste Kluft seiner knittrigen Welt stürzte. Sie war eine herzensgute Person, das hatte Orestes schon im ersten Gespräch festgestellt, aber nicht naiv. Ein herzensguter Mensch, der in einer Welt wie Amhran bestehen konnte, musste abgebrüht, argwöhnisch und kaltblütig an Dinge heran gehen, und diese Linie war keine, die man leicht begehen konnte. Geradezu neiderfüllend war es, Eylis bei ihrem Seiltanz zu beobachten, und selbst zu wissen, dass man im selben Kunststück versagt hatte. Dennoch, irgendetwas an der Kombination von Serbitar und Eylis ließ Orestes nicht mehr ruhig schlafen. Es war nun nicht so, als hielte er Serbitar für einen schlechten Menschen, mitnichten. Es war eher so, dass er die Unberechenbarkeit des Lehensritters zu gut kannte, seine schwankenden Gemütsregungen, seine witterungsbedingten Umschwünge. Er ahnte, konnte es regelrecht auf der Zunge schmecken, wie dieses Temperament und des Lehensritters guter Kern jemanden wie Eylis früher oder später vom Weg abbringen würden. Eylis, die sich der Schlechtheit der Welt schon lange bewusst war, und ihre Entscheidungen entsprechend informiert traf, hatte sich für den Lehensritter entschieden. Und eine Entscheidung würde zur nächsten führen, und zur nächsten, und eine jede dieser Entscheidungen würde sich auf der letzten begründen, bis der Grund, der Bodensatz des moralisch Möglichen erreicht war, und auch diese herzensgute Person an Amhrans Gesellschaft zerbrach.
Der Schwenk in die Neustadt brachte das Gluckern des Kanals mit sich, der zumindest in diesem Stadtteil, so dicht an der Quelle, für frische, klare, saubere Luft sorgte, anstatt die Gassen mit dem Gestank von Abwasser zu erfüllen. Das Grinsen hielt sich, das Pfeifen ebenso.
Dann waren da noch Nicolas und Morkander, und ihre Idee. Er mochte die Idee, sehr sogar, sie passte wunderbar zu seinem knittrigen Geist. Die Landschaft schleifen, die Gesellschaft schleifen, hinter sich verbrannte Erde lassen, und zum Teufel mit jenen, die darunter leiden würden. Warum auch nicht? Es war der Weg der Welt, es war jenes Verhalten, das er seit Jahren beklagte und doch nicht aus seinem Umfeld vertreiben konnte, warum also sollte er sich nicht mit den anderen in die Fluten stürzen? Der Gedanke daran, wie die schieren Andeutungen jener Gedanken dafür gesorgt hatten, dass die Egoisten seines Freundeskreises von einem Moment auf dem anderen plötzlich darauf beharrten, dass Orestes das doch nicht tun könne weil er ein guter Mensch sei, machten das Grinsen auf seinem Gesicht nur breiter. All diese selbstsüchtigen Köter hatten all die Monate darauf vertraut, dass Orestes als selbstloser Mensch kostenfrei und zu jeder Tages- und Nachtzeit jedermann für jedes Thema zur Verfügung stand, und ignoriert werden konnte, sobald es um seine eigenen Probleme ging. Natürlich wollte keiner eine so bequeme, angenehme Vereinbarung riskieren, aber das hielt Orestes nicht länger davon ab, die Wünsche seiner "Lieben" und "Vertrauten" zu ignorieren.
Da war auch niemand mehr, der ihn auf dem rechten Pfad halten konnte. Kein Sherion, kein Servok, kein Ceras, kein Irik, sie alle hatten sich entweder dem Grabe, oder aber anderen Dingen zugewandt. Die Stadt hatte beschlossen, alle in den selben Sack zu stopfen und mit dem Knüppel darauf zu schlagen, bis auch der letzte Heller heraus kullerte, und bis auf die angenehmen Fußwege und die flüchtige, oberflächliche Gesellschaft hielt Orestes sonst eigentlich nichts in dieser Stadt. Selbst das Schöffenamt war inoffiziell zum Witz erklärt worden, das vom Adel und der Kirche jederzeit ignoriert und übergangen werden konnte, sobald etwas Wichtiges, Ruhmversprechendes anstand. Was hatte er also zu verlieren?
Nichts.
Das Grinsen erlosch, allerdings nur um dem leisen Pfeifen Platz zu machen, das ihn dieser Tage auf jeden Weg aus der Stadt zu begleiten schien. Es war keine bekannte Melodie, zumindest nicht außerhalb der Kreise von Guldenacher Hafenhuren, aber sie war eingehend. "Meinem Liebsten den Dolch" war ein verrufenes Lied, und eines, das selbst den betrunkensten Freier in einen hurtigen Lauf fort von den Gelbbändlerinnen entsandte.
Auch die kleinen Menschen hatten scharfe Klingen in ihren Gewändern, und wehe dem, der sie heraus forderte.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
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