FSK-18 Himmelgrau
#17
Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele,
und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.


- Vincent Van Gogh

Ein lustiges Feuer knisterte in der massiven Kaminfront, die Servok in dem kleinen, lauschigen Haus errichten hatte lassen. So sehr der Frühling seine Finger nach den Pflanzen und Tieren ausstreckte, die Katzen in den Irrsinn trieb und die Kater zu mitternächtlichen Klagegesängen verleitete, Nachts war es immer noch empfindlich kalt, kalt genug um sich in der beheizten Stube wohler zu fühlen als irgendwo sonst.
Die Kälte, die sich zunehmend in Orestes' Gliedern einnistete, hatte jedoch mit der schwülen Raumtemperatur nichts zutun. Eher schon war es die altbekannte, geliebte Stimme des einen Menschen, der sein blindes Vertrauen genoss. Servok.
"Was kümmern dich Kirchensachen, wenn sie in der Kirche bleiben? Du willst doch garnicht mehr Vogt sein, weshalb lässt du dich derlei jetzt... warum trifft es dich?" sprach der Rothaarige, und seine Stimme klang sanft und einfühlsam, ein wenig bedauernd vielleicht, milde, wie man mit einem kleinen Kind sprach.
Die Bedeutung dahinter war Orestes jedoch klar, und woher die Worte wahrlich wehten hatte er in dem Moment verstanden, wo Servok so seltsam auf Justans Name reagiert hatte. Es war, als hätte irgendwo in seinem Kopf ein Jägersmann nach seinem Jagdhund gepfiffen, ähnlich plötzlich schwenkte Servoks ganzes Gehabe um. Es musste lange in ihm gebrodelt haben, um eine so heftige Reaktion auszulösen.
Und dabei hatte Orestes nicht einmal die Angelegenheit mit der Kirche angesprochen, sondern nur von dem Gespräch mit Justan berichtet, ähnlich wie er sonst seine Gedanken teilte.
Mit einer solchen Retourkutsche hatte er aber nicht gerechnet, und für einen Moment schien ihm das Herz auszusetzen, als er auf den Fisch vor sich sah. Tausende kleine Momente, Ideen und Vorstellungen darüber, welche Art von Gesprächen Servok und Justan geführt haben mochten, schossen ihm in den Kopf, ebenso wie all die Abende, an denen Servok seiner Idee Worte gegeben hatte, doch in die Sonnenlegion zu gehen.
War sein Vertrauen gerade missbraucht worden? Oder war dies nur Servoks ungeschickte und verspätete Art, seine Meinung zu Dingen zu sagen, die schon längst vergangen waren?
"Ich kann es mir nicht leisten, dass du mir Zweifel einredest." erklärte Orestes dem Feuerteufel mit einem sachten Lächeln, in der Hoffnung er würde verstehen, das Thema auf sich beruhen lassen für einen anderen Tag. Zweifel konnte Orestes sich nämlich tatsächlich nicht leisten, nicht in der prekären Situation in der er sich befand.
Servok jedoch hatte sich verbissen. Es war lange nicht mehr geschehen dass der Rotschopf sich an einem Thema so festsaugte, aber Orestes hatte es kommen sehen. Erst letztens hatten sie ein langes, sehr versöhnendes Gespräch geführt, und wie all die Monate zuvor war auch dieses Mal wieder die erste Reaktion darauf, die plötzliche Nähe zerschlagen zu wollen. "Berechtigte Zweifel?" raunte Servok, immer noch ein Bild der Ruhe.
"Egal welche Zweifel. Deine Gefühle stehen nicht über meinem Leben, Servok. Ich verletze lieber deine Gefühle, als sehenden Auges in den Tod zu rennen." Gut, innerlich bezweifelte Orestes, dass Justan allzu bald versuchen würde ihn um die Ecke zu bringen, aber ob tot jetzt oder tot später spielte im Großen und Ganzen keine Rolle. Es mochte andere Männer geben, die leicht vergaben und vergaßen, deren Verstand kein Bild stricken wollte aus all den Eindrücken die gesammelt worden waren, aber Orestes war keiner von ihnen. Er vergab gerne und oft, aber er vergaß nie.
Nicht den Tag als Justan ihn auf der Straße bedroht hatte, nicht den Tag als Justan Eirene einem Dämon vorgeworfen und Ceras verprügeln hatte lassen, nicht die Spionage, die er für das Haus Jehann betrieben hatte, nicht die Beschimpfungen in der Kirche, die Andeutungen ihn wegen Blasphemie verhaften zu lassen, oder die Art wie die Kirche jegliche Konsequenz verweigert hatte, nichts von alldem hatte seinen Verstand jemals verlassen. Jedes Gerücht, jede Beobachtung, jeder Bericht und jede halbherzig ausgeseufzte Beschwerde war in seinem Kopf geblieben, und offerierte nur eine mögliche Lösung, die Ehrwürden Schumann befriedigend finden würde: Orestes Tod. Ob nun absichtliche Unfälle, gar unvorhergesehene Unglücke, ein Mordkomplott oder die überaus beliebte Anklage wegen Blasphemie, Hexerei oder Besessenheit, irgendetwas davon würde Justan durchsetzen. Der Titel des Vogts machte Ehrwürden seine Aufgabe schwerer, aber nicht unmöglich, und in dem Moment wo Orestes seine Aufmerksamkeit ablenkte, gar Schwäche oder eine Angriffsfläche bot, da würde der gute Ehrwürden zustoßen.
Und Servok würde weinen, ganz sicherlich würde er das, klagen und sich selbst die Schuld geben - oder auch nicht -, aber nichts davon würde Orestes wieder lebendig machen. Orestes hing an seinem Leben. Sehr.
"Ich bin nicht umsonst dein Leibwächter, Orestes. Ich würde niemals die Gefahr eingehen dein Leben aufs Spiel zu setzen." beteuerte Servok da, und riss ihn aus seinem stetig rauschenden Malstrom aus Überlegungen und Plänen. Mit einem Blinzeln rückte er die nimmerstille Stimme in seinem Kopf in den Hintergrund, wo sie weiter spann und sammelte, verglich und auswertete, während er selbst sein Augenmerk wieder auf Servoks angestrengtes, bemühtes Gesicht richtete. Er war nicht dumm, der Flammenkopf, nicht im Geringsten. Manche Dinge schienen einfach nur in seiner Weltansicht nicht vorzukommen - wie zum Beispiel Betrug, Intrige und Hinterhältigkeit. Eine gute Eigenschaft, und eine fürchterliche Eigenschaft.
Servok wollte verstehen, das wollte er wirklich, Orestes konnte es sehen. Aber all die Mühe und die Überzeugung konnten ihn nicht mehr länger über die Wut hinweg tragen, die sich stetig und zunehmend in der Leere in seinem Herzen ansammelte. "Du bist blind und abgestumpft für die Gefahr, die auf mich lauert. Du betest bei der Gefahr. Du verteidigst die Gefahr vor mir. Du bringst mich willentlich in Gefahr, indem du mir Zweifel einredest."

"Willentlich? Denkst du das wirklich?"
Manchmal vergaß Orestes, dass keiner in seinen Kopf sehen konnte, und manchmal vergaß er, dass das nicht bedeutete, dass er seine Geduld bewahren musste. Manche Dinge waren einfach zu unverfroren, um sie so stehen zu lassen.
"Du glaubst ich hätte niedere Motive für das was ich tue. Du tust so als würde ich einfach nur eine Laune ausleben. Als sei ich ein verzogenes Gör dem man mit ein paar Worten die Fehler seiner Wege aufzeigen kann, und dann ist alles wieder gut," knurrte er über den Tisch und die darauf ruhende Fischplatte hinweg, unwillig seinen ebenfalls knurrenden Magen nun zu besänftigen. Vielleicht war sein Blick zu lange nach außen gerichtet gewesen, sodass er Servoks Zweifel nicht wahrgenommen hatte, manchmal gar nicht inne gehalten hatte um ihn nach seiner Meinung zu befragen, aber dass er sich so sehr in dessen Ansichten irren hatte können, das hatte selbst Orestes' schlafloser Geist nicht erwartet.
"Worte reichen bei dir nicht, und du begreifst nicht, das es mehr bringen würde sich der Kirche Freund als Feind zu schimpfen."
Ach, wäre die Welt doch nur so einfach.
"Natürlich würde es das. Ich hätte ein angenehmes, laues, schönes Leben. Ich wähle den Weg, das Volk zu schützen. Jene die nicht in Sicherheit sind weil sie einen Titel ihr Eigen nennen. Ein Titel. Mehr Unterschied ist nicht zwischen mir und einem einfachen Menschen. Ich tue meine Arbeit." Und einfacher war sein Leben allemal gewesen, als er noch einen Bogen um die Kirche gemacht hatte. Viel einfacher. Keiner hatte sich um ihn geschert, man hatte einander zugenickt und war wortlos aneinander vorbei gegangen, keiner ausser Seligkeit Winkel hatte jemals einen Mucks darüber verloren, dass Orestes der Sohn eines Bordellinhabers war, dass er Hermetiker war, dass er ein Knabenliebhaber war, und ein Schönling, ein Tavernenwirt und jünger als so mancher Schreiber. Solange er nicht wichtig gewesen war, hatte ihm keiner Beachtung geschenkt, er war ein Nichts gewesen, ein Niemand der in seliger Ruhe jeden Gottesdienst und jedes Fest geschwänzt hatte, froh darum sich nicht dem täglichen Gezänk aussetzen zu müssen.
Erst als er Macht errungen hatte, erst dann waren sie heran galoppiert und hatten ihre Meinungen in sein Gesicht geschrien, als habe die Kirche gerade erst festgestellt dass Orestes all diese Dinge - und noch weit, weit mehr - war, als habe er sie verheimlicht, als habe er irgendjemand hintergangen, und nur sein Titel hatte ihn davor geschützt, wie so mancher andere einfach in den Kirchenkeller geschliffen zu werden. Oder auf der Straße verprügelt zu werden. Oder erpresst zu werden. Die Dinge die er gehört hatte, waren so unzählbar wie die Sterne am Firmament, und nun, nun hatte Orestes es über. Die Erkenntnis, dass sein Titel ihn in die Lage versetzte, etwas gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit zu tun, war eine Befreiung gewesen, die er nun zu nutzen gedachte, auch wenn es sein Sturz, Fall und Tod sein würde. Solange andere etwas davon haben konnten, solange die Stadt ein besserer Ort wurde, solange die Kirche aufhörte mit diesen Spielen und sich wirklichen Aufgaben zuwandte, solange war der Streit mit Ehrwürden Schumann jeden Schweißtropfen wert.
Dass Servok jedoch anderer Meinung sein könnte... Daran hatte Orestes nie gedacht. "Wann hat das Volk jemals was für dich getan?"
"Nie. Sie haben nie etwas für mich getan." erwiderte er nüchtern, auch wenn es eine halbe Übertreibung war. Natürlich gab es in der Stadt gute Seelen, die ihm persönlich geholfen und ihn persönlich unterstützt hatten, aber "das Volk" als Ganzes hatte von Anfang an geschimpft und gezetert, auf seinen Namen gespuckt und ihn als schlechteste Wahl für den Posten bezeichnet. Es war unnötig, sich darüber Illusionen zu machen. "Aber weißt du was? Das ist der Grund warum ich Vogt bin, und nicht ein anderer. Weil ich nicht auf die Rechnung schaue, wer wieviel wann für wen getan hat."

"Und deine Aufgabe ist es die Kirche zu hinterfragen und derlei herunterzumachen? Das ist die Vogtaufgabe?" kam die beißende Antwort, die erste spürbare Andeutung darauf, dass Servoks Zorn die Überhand gewann. Zuvor hatte er noch versucht zu verstehen, aber das Verständnis hatte ein Ende genommen. Für einen Moment sah Orestes' Verstand ihn auf hoher See, krampfhaft das Steuer umklammernd im Versuch gegen die aufgebrachten Naturgewalten zu kämpfen. Ein Ertrinkender, der sich an einem Leichnam festhalten wollte um nicht unter zu gehen, während die Haie kreisten.
"Meine Aufgabe ist es, dem Volk ein gerechter, ordentlicher, gläubiger und verlässlicher Herrscher zu sein. Und dazu gehört es, Verbrecher wie Justan in ihre Schranken zu verweisen, selbst dann wenn es für mich als sterblichen Mann Gefahr bedeutet." Selbst diese Worte waren kaum mehr als ein letztes Luftschnappen bevor die metaphorischen Haizähne sich um seine Beine schlossen und begannen ihn in die Tiefe zu zerren. Orestes wollte sich an den Kragen greifen, das Hemd weiten, irgendetwas tun um das stählerne Band, das sich um seine Kehle schloss zu lockern, aber da war nichts. Das Band war unsichtbar, unter seiner Haut, um sein Herz.
"Und bist du es? Bist du es?" Die gezischten Worte waren der letzte Ruck. Sein Herz machte einen krampfhaften Sprung, setzte für einen Schlag lang aus, und überließ ihn der Stille. Die Stille füllte den Rest der Leere in ihm mit eisiger Kälte, einem Winter in der Seele gleich, der ungerührt über die letzten Sprösslinge von Naivität hinweg fegte und sie im Keim noch erstickte.
Kein Feuer dieser Welt hätte Orestes' Körper in diesem Moment noch wärmen können, er fühlte sich selbst für Zittern zu kalt. Mit einem Ruck drückte er sich vom Tisch hoch, weg vom Mann den er liebte, weg von der Situation die ihm nur noch mehr Pein bringen würde.
"Ich brauche deine Zweifel nicht." wiederholte er ein letztes Mal, und seine Stimme war erfüllt von dem Eis das er in sich trug.
Menschen konnte man nicht vertrauen, keinem einzigen von ihnen. Sie alle verrieten einander früher oder später, vergaben einander, versöhnten sich wieder, und wiederholten all die Fehler die ihr Leben ausmachten bis zu ihrem Tod. Es war ein undurchbrechlicher Kreislauf des Lebens, der nur von heftigem Beben jemals durchbrochen werden würde.
Ein Beben, wie er es der Kirche zu senden versuchte, koste es was es wolle. Ein Beben, das wohl auch seinen Vertrauten mitgerissen hatte, wie es auch andere verschlang.

In seinem leeren Haus angekommen starrte Orestes ein paar Momente in die Dunkelheit, und wunderte sich still, warum es gerade die Worte des Söldners waren, die ihm nun durch den Kopf spukten, und nicht der Streit den er durchlebt hatte. 'Niemals schlafend, stets bereit, jeder Order folgend, willfährig und gehorsam,' flüsterte sein Geist, und trieb ihm einen kalten Schauder über den Rücken.
Vielleicht gab es ja doch einen anderen Weg.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 22.06.2013, 02:55
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 25.07.2013, 23:18
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 31.08.2013, 18:08
RE: Himmelgrau - von orikson - 01.10.2013, 13:37
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 26.10.2013, 03:13
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 08.01.2014, 00:24
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 12.11.2013, 07:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 20.11.2013, 12:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 17.12.2013, 07:16
RE: Himmelgrau - von Sherion - 30.12.2013, 05:59
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 04.02.2014, 20:27
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 06.03.2014, 01:16
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 30.05.2014, 21:05
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 29.09.2014, 23:04
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 01.04.2015, 20:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 06.04.2015, 02:27
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 07.06.2015, 00:05
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 27.06.2015, 18:53
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 19.02.2016, 14:45
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 10.03.2016, 10:37
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 16.06.2016, 19:13
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2016, 22:06
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 26.06.2016, 19:23
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 12.09.2016, 02:21
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 18.09.2016, 23:34
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 29.10.2016, 05:36



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste