FSK-18 Himmelgrau
#4
Einige Staubkörner schwebten selbstvergessen im Sonnenschein, der durch das Fenster fiel. Selbst mit gehobener Hand konnte Orestes weder die Staubkörner noch das weißgelbe Rechteck aus Licht an der Wand über sich berühren, und die Bewegungslosigkeit trieb ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn.
Das Fieber hatte in den letzten zwei Tagen zunehmend abgenommen, aber es war nie ganz verschwunden. Hier war niemand, der ihm den Schweiß abgewischt oder die Stirn gekühlt hätte, niemand der ihm nach dem verwirrten Erwachen aus einem Fiebertraum erklärte, dass alles in Ordnung war, und niemand, der ihm zur Hand ging wenn er Durst oder Hunger hatte. Diese Dinge in seinem Zustand selbst zu erledigen hatte dafür gesorgt, dass seine Heilung sich zumindest gefühlt rückwärts bewegte, statt vorwärts, aber er wagte nicht, irgendetwas dagegen oder darüber zu sagen.
War es normal, selbst im Sterben liegend noch als Weichling bezeichnet zu werden? Orestes war sich nicht sicher, immerhin hatte er noch nie eine gewalttätige Auseinandersetzung gehabt, und war sicherlich noch nie derart schwer verletzt gewesen. Noch nicht einmal Grippe hatte er vorzuweisen, seine Mutter war dafür viel zu paranoid und besorgt gewesen.
War es normal, dass nach einer Woche immer noch jede einzelne Bewegung, ja selbst das Atmen schmerzte? Dass er sich in Fieber wand, die Wunden brannten, er sich nicht zu erheben vermochte, und mehr Wasser trank als jemals zuvor?
War es normal, dass nach einem derartigen Überfall durch einen fremden Angestellten just ein weiterer fremder Angestellter ins Haus geholt wurde? Noch dazu einer, der ebenso wenig an seinem Wohl interessiert war, wie der letzte?

Orestes verengte die Augen, warf den Staubkörnern dort oben einen finsteren Blick zu. Würde dieser Aygo Mensch ihm auch die Kehle durchschneiden und ihn aus dem Fenster werfen, wie es der letzte Hauswächter getan hatte?

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Herz ihm einmal mehr bis zum Hals schlug, dort wütend in der vernähten Kehlschnittwunde pochte, und ihm den Schweiß am ganzen Körper ausbrechen ließ. Wie er es drehte und wendete, Orestes würde nicht noch einmal seine Sicherheit riskieren, nur weil sein Leibherr zu beschäftigt mit sich selbst war, um auf seinen Besitz zu achten.
Der Transport in sein Heim hatte seine Wunden kurzzeitig wieder schlimmer gemacht, und ihn für mehrere Stunden zurück in die Ohnmacht getrieben, aber auch das war schon wieder drei Tage her. Orestes befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze, und versuchte trotz der Hitze in seinem Kopf seine Gedanken zu sortieren. Er kannte das Innere seines Hauses in- und auswendig, es war nur eine Frage, ob er sich lange genug konzentrieren konnte, um sich daran zu erinnern, wo der Schlafmohn war, wo der Wein, wo der Kocher. Und wie zur Hölle er mit einem bösen Oberschenkelbruch dorthin kommen sollte, ohne das Bewusstsein zu verlieren, zu stürzen, und wie ein Greis im eigenen Heim zu verrecken.

Der Schlafmohn war im oberen Lagerfass links, die Phiolen am Arbeitstisch, wo auch der Kocher und der Kessel auf ihn warteten. Das Weinfass war unglücklich platziert, weit weg von den Gläsern und Krügen, aber mit ein bisschen geschickter Planung würde er den Weg minimieren können. Und wenn er zuerst den Wein besorgte, und zwei oder drei Gläser trank, würde er es vielleicht auch schaffen, sich an der Arkadenwand hoch zu ziehen und den Mohn zu holen, bevor er vor Schmerz zusammenknickte. Alles eine Frage des Willens, und davon hatte Orestes mehr als gesund für ihn war.
Das Kriechen an sich war eine besondere Art der Selbstbeherrschung, noch bevor er sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatte. Eine Woche der fehlenden Hausarbeit hatte einige Stiefelspuren, trockene Matschklumpen und eine feine, kaum sichtbare Staubschicht auf dem Boden hinterlassen. Für normale Menschen war das Haus vermutlich immer noch in einem exzellenten Pflegezustand, aber Orestes war nicht normal. Täler aus Gift und Feuer wären für ihn wohl weniger ein Hindernis gewesen, als nackt durch den Hausstaub zu robben.
Dennoch dauerte es nur einige Minuten des Ringens - die Wahl dazwischen, von dieser neuen, fremden Person ausgeweidet zu werden, oder durch den Staub zu robben, war keine sehr Schwere.

Vielleicht bin ich nun ja wirklich endgültig verrückt.

Der Weg von vier Schritten hatte eine halbe Stunde gedauert, zumindest wenn man dem Lichtfleck an der Wand trauen durfte. Ob er zwischendurch ohnmächtig geworden war, konnte Orestes selbst nicht sagen, aber als er endlich das Weinfass erreichte, war er drauf und dran sich niemals wieder zu rühren. Die Schnittwunde am Hals und das geschiente Bein hatten es notwendig gemacht, auf dem Rücken liegend mit einer Hand und einem Bein für Bewegung zu sorgen, und inzwischen schien es auch undenkbar, in diesem Zustand Laudanum herzustellen.
Nach dem dritten Glas Wein jedoch begann der Schweiß zu verdunsten, und die Flüssigkeit belebte auch seine Gedanken etwas. Wein war eben ein schieres Wundermittel der Heilkunst, überlegte Orestes beschwipst, und füllte das Glas ein letztes Mal.
Der Rückweg zum Tisch führte zu dem einen oder anderen Weinfleck, und das Glas auf den Tisch zu verfrachten gab Orestes einen Ausblick darauf, wie es sich anfühlen würde, aufzustehen - nur halb so schlimm wie erwartet, aber schlimm genug um eine weitere Pause in Betracht zu ziehen.

Der Lichtfleck erreichte den Boden, als Orestes sich mit zitternden Muskeln an der Arkadenwand hochzog. Der pulsende, stechende Schmerz in seinem rechten Bein ließ Lichtblitze vor seinen Augen tanzen, aber solange er sich an der Wand festhielt, und so tief atmete wie es die Halswunde und die Verbände zuließen, fiel er zumindest nicht in Ohnmacht. Und nach gut zehn Minuten des Zitterns, Schnaufens und Klammerns schien sein Körper endlich missmutig nachzugeben, und der Schwindelanfall verschwand lauernd in den Hintergrund.
Den Schlafmohn blind und mit nur einer Hand aus dem Fass zu wühlen stellte sich als eine weitere Willensprüfung heraus. Gnadenkrautblätter, Stechapfelfrüchte, Grabmoos, Lavendel und Salbei wurden auf den Boden geworfen, bevor er endlich die kleinen, ovalen Kapseln ertastete, und vor Erleichterung beinahe in Tränen ausbrach.
Auf dem Weg zurück zu Boden setzte dann doch noch einmal die Ohnmacht ein, allerdings glücklicherweise erst, als sein Hintern sich schon auf den Dielen befand. Eine ordentliche Beule auf dem Hinterkopf war das einzige neue Souvenir, das er sich dabei zuzog, und auch wenn die dem folgenden Kopfschmerzen die Arbeit mit Flüssigkeit und Kerzen erstaunlich gefährlich machte, so hielt ihn dieser Rückschlag doch nicht davon ab, die Schlafmohnkapseln zu ritzen, und im Wein aufzukochen.
Am liebsten hätte er gleich dort am Tisch geschlafen, aber dann hätte dieser Fremde, Aygo, vielleicht mitbekommen, dass Orestes eine laudanumgestützte Flucht plante, und das konnte er nicht riskieren.
Die noch heiße Flüssigkeit wurde in eine kleine Tonflasche gefüllt, verkorkt, und mit bleischweren Gliedern samt zerschlagenem Körper zurück zur Liegestatt geschliffen. Sein Kopf berührte gerade einmal die vorher so unangenehmen, nun aber herrlich weichen Felle, als die Schwärze des Schlafs sich auch schon gierig auf ihn stürzte.

Nur ein paar Stunden Schlaf, bis ich mich erholt habe, nicht lange.. dann bin ich bereit. Ganz sicher.
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Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 22.06.2013, 02:55
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