Galatische Wurzeln
#1
Bäume sind überall gleich. Wurzeln, Stamm, Blätterdach, das leise Wispern im Wind, das melancholische Knarren im Winter, und die erwartungsvolle Stille bei Nacht.

Das linke Auge halb verengt blickte Flynn den Stamm einer alten Eiche hinauf. Das Eichhörnchen war ihr entkommen, den Stamm hinauf geflüchtet, und versteckte sich nun irgendwo da oben in den knorrigen Ästen des alten Baumes. Er war dicker, stämmiger als alle anderen Baumstämme, die Flynn bisher in diesem neuen Land gesehen hatte, gut gewachsen, mit geradem Ansatz und hohen Ästen.
Vermutlich würde er demnächst von den immergierigen Holzarbeitern gefällt werden.
Mit einem missbilligenden Schniefen klemmte Flynn sich den Bogen über die Schulter, und wandte sich ab.
Die Wälder Servanos waren für die Augen der Galatierin etwas eigentümlich, wenn auch nicht völlig fremdartig. Überall lagen die Äste ehemals gefällter Bäume herum, Gebüsch rankte sich dort, wo künstliche Lichtungen zuviel Sonnenschein zum Boden gelassen hatten, und die meisten Stämme waren gerade einmal schlank genug, um sie nicht mehr als drei Mal zu spalten. Bis auf die Eiche mit dem Eichhörnchen darauf hatte Flynn noch keinen Baum gesehen, der auch nur im Ansatz an die altehrwürdige Macht der Ahnenbäume auf Prenne herangereicht hätte. Es schien fast so, als würden die Bewohner Amhrans die Bäume schneller fällen als sie wachsen konnten, und dass daraus nichts Gutes entstehen konnte, war zumindest für Flynn völlig einleuchtend.
Holz musste atmen, ruhen und trocknen, damit es sich nicht verzog oder zerriss, das wusste auf Prenne, ihrer Heimatinsel, jedes kleine Kind. Hier aber tropften die Bretter noch Harz, während sie schon auf Karren geladen und zu verschiedenen Baustellen gezogen wurden. Für sie war es unvorstellbar, wie Menschen guten Gewissens in Gebäuden mit solcherlei Stützbalken leben konnten, ohne bei jedem leisen Knirschen hochzuschrecken und vor die Türe zu laufen, als sei ein Kelpie hinter ihnen her.
Ein Rascheln hinter einem Gebüsch riss sie ruckartig aus ihren Überlegungen, und ließ sie mit einer Hand den Bogen greifen. Irgendetwas Jagbares musste in diesen Ländern doch noch zu finden sein!
Ein Pfeil fand seinen Weg auf Handkante und Sehne, während Flynn mit verengten Augen die Stelle fixierte, an der es geraschelt hatte. Das Jagdfieber, das sie an diesem Tag schon mehrmals gepackt hatte, nur um sie dann wieder unbefriedigt zu verlassen, schüttelte ihren Körper erneut, und ließ die Pfeilspitze etwas auf und ab zittern.
Ein weiteres Rascheln, dann das Knacken von Ästen. Große Beute mit viel Gewicht.
Ein Grunzen erklang, dann schwangen die Äste hin und her. Ein Wildschwein!
Den Bogen zur Gänze spannend hielt Flynn die Luft an, zielte, und...
verriss den Bogen im letzten Moment mit einem empörten Schrecklaut, als ein verschwitzter, dreckiger Kerl mit einem gefällten Jungstamm unter dem Arm aus dem Gebüsch torkelte, und sie verdutzt ansah.

Was zur Hölle war los in diesem Land!

Zwei Stunden später ließ Flynn sich seufzend in einen Stuhl im Gastraum des goldenen Raben fallen, und warf der Schankmaid einen verzweifelten Blick zu.
Amhran war überfüllt. Überfüllt an Menschen, an Waren, an Hoffnungen und an Chaos. Selbst die Familienzwiste auf Prenne erschienen gegen das allgegenwärtige Chaos in Servano lächerlich klein, und für einen Moment stieg Heimweh in ihr auf.
Dann sah sie Caileans Gesicht vor sich, und ihre Mutter, die strahlend von einer arrangierten Ehe schwärmte, und das Heimweh erlosch schlagartig wieder. Nicht dass sie etwas gegen Cailean einzuwenden hätte, immerhin war er - wie die anderen Jungs - einer ihrer besten Freunde, praktisch schon ein Blutsbruder, aber Ehe? Niemals!
Auf Amhran zu bleiben war schon in dem Moment beschlossene Sache gewesen, als sie den ersten Fuß auf den Pier des neuen Hafens gesetzt hatte (um Sekunden später von einem Matrosen ins Hafenbecken geschubst zu werden, da dieser herausfinden hatte wollen, ob Galatier tatsächlich auf dem Wasser treiben wie Bruchholz).
Was dieses Land aber tatsächlich brauchte, waren Ordnung, Schutz, Disziplin, und ein bisschen, nur ein kleinbisschen, Zurechnungsfähigkeit. Aber bei all der Geschichte und den großartigen Bauten, die sie schon gesehen hatte, war es ihr ein Rätsel, wie es zu diesen Zuständen hatte kommen können.
Die Schankmaid stellte die Fischsuppe und einen Holzbecher Wasser vor Flynn, und riss sie einmal mehr aus ihren Überlegungen. Ein Grinsen huschte über die schmale Miene, dann begann sie zu essen.
Die Entscheidung war gefällt, und ihre Clansbrüder würden ihr sicher zustimmen.

Was Amhran brauchte, waren Anführer wie jene des Clans Crimthainn Ain. Es galt nur noch, die Bevölkerung davon zu überzeugen.
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Galatische Wurzeln - von Flynn Crimthainn Ain - 23.05.2013, 14:19



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