Spitzfindigkeiten
#1
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Übelkeit.




Nicht genug, dass jeder mit jedem in diesen Stadtmauern und Lehensgrenzen eingepfercht wurde; nein, auch fühlte sich selbst der Dümmste groß genug, um jegliche Autorität anzuzweifeln. Die Flüchtlingswellen, die Servano und insbesondere Löwenstein getroffen hatten, waren nicht leicht zu verdauen. Wer sehen wollte, wo er blieb, verkaufte über Kurz oder Lang seine eigene Großmutter, wenn die sich nicht schon selbst an eines der Häuser dieses urbanen Inzesthaufens verramscht hatte. Was für Schindluder doch getrieben wurden unter dem Deckmantel der ach so ehrenwerten Familiennamen, die nicht davor zurückscheuten, sich gegenseitig zu ruinieren und an den Galgen zu bringen.

Ein leises Seufzen entwich ihm und hallte einen Moment in der leeren Stube im Obergeschoss nach. Die Versammlung der Schneiderhandwerker war für ihn umso mehr Beweis gewesen, wie verkommen alles war. Wo sich Weibsbilder groß und mächtig fühlten, weil sie mit Nadel und Faden umgehen konnten. Wo sich Mannsweiber, die nie etwas im Leben erreicht hatten, an dem seinen herumzweifelten. Wo sich Weibsmänner hinzugesellten, die wohl eher aus Glück denn als Verstand noch nicht von irgendwelchen Barbaren geschändet und zerfetzt worden waren. Weibsbilder, die von ihren Männern gezüchtigt gehörten; die keinerlei Respekt vor gottgegebener Ordnung und Verdiensten hatten, forderten doch glatt das beschriebene Stück Hadern, das ihn als den auswies, der er war. Wer waren sie überhaupt, diese...! Er schluckte den Fluch herunter. Das war unangemessen. Auf dieses Niveau wollte er dann doch nicht sinken, sich als Fuchs nicht mit einer Schar Hühnern gleichstellen.

Der nachfolgende Spaziergang durch die Stadt kühlte seinen Mut nur unmerklich. Bekam er doch hier eine Warnung, da eine Bestätigung seiner Vermutungen zugeflüstert; immer wieder versuchte dieses Potpourri aus Intrigen und inzestuösen Anbandelungen nach ihm zu greifen.


* * *


Was sehnte er sich nach der heimischen Rabensteiner Stube. Was sehnte er sich nach ihr, seit sie mitsamt seinen Eltern niedergebrannt war. Früher konnte er doch kaum oft genug dem familieneigenen Besitz entfliehen und Zerstreuung suchen. Und jetzt, wo sie nicht mehr da war, erinnerte er sich nur allzu lebhaft an die verbrachten Stunden über seinem Reißbrett, wo er die Schnitte für seine Prüfungen entwarf. Es klang in seinen Erinnerungen so viel wünschenswerter wie dieses elende Gedränge um die groben Holztische in der Zunft, an denen jeder vernünftige Mensch irgendwann verzweifelte.


* * *


[Bild: kuno_fenster.jpg]


Müde stand er an dem roh behauenen Tisch, der in der neuen Stube stand. Die Kladde offen, der Blick aus dem Fenster gewandt, die Gedanken wie träges Wasser eines ruhigen Baches vor sich hin plätschernd. Draußen rief einer der Wächter die Uhrzeit aus.


"Ravinsthal, wie fehlst du mir."


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Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 20.05.2013, 12:48
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 27.07.2013, 13:01
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 03.08.2013, 21:07
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 18.08.2013, 11:48
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 18.08.2013, 22:07



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