Der Tropfen auf dem heißen Stein
#1
[Bild: 33agyeb.jpg]
Gezeichnet von Käthe Kollwitz

Stille, nur manchmal knackt es.
Das knistern des Kaminfeuers in der Akademie in Löwenstein gleicht einer beruhigenden Melodie,
als der Eleve Silberau auf dem Boden vor dem Kamin sitzt und wieder in Gedanken versunken ist.
Oft erlebte man ihn geistig Abwesend, in seinen eigenen Fantasien gefangen, doch normalerweise waren Fantasien ja etwas schönes,
dies war nur ein gescheiterter Versuch der Realitätsflucht.

Eine weitere schlaflose Nacht.
Den Göttern sei Dank bemerkte noch niemand sein nächtliches Treiben und Schaffen.
Auch seine Müdigkeit konnte er gut verbergen, zumindest sprach weder der Meister in der Akademie noch Aurora Drakenquell ihn darauf an.
Diese zwei Leute behielt er mit guten Gedanken verbunden im Gedächtnis.

Schon früh hatte Draven ein ungutes Gefühl bei den größeren Familien, doch erst als ihm die Arbeitsbedingungen in diesen Familien genannt worden sind,
empfand er eine wirkliche Antipathie gegen jene.
Njal, ein guter Mensch. Ihm fehlte es an der Form, es könnte mehr aus ihm werden, wenn er unter den richtigen Umständen gelebt hätte und leben könnte.
Doch statt Fürsorge und Unterstützung erfuhr er Schläge von seinem Herren. "Ganter", nannten sich diese Sklaventreiber. Draven wünschte sich, er wäre ein trauriger Einzellfall gewesen, doch schien es mehr ein Problem in der Gesellschaft zu sein, welche dies duldet. Wie konnte es dazu kommen, dass dieses Lehen nur noch aus Herren und Knechten bestand?

Draven kannte es so nicht. Er durfte unter den richtigen Umständen aufwachsen und genoss eine zwar strenge, aber recht offene Erziehung, die ihm Möglichkeiten gab sich selbst zu entfalten. Entgegen den meisten Leuten in Sildendir trug er eine gewisse rebellische Grundhaltung und den Willen zur Macht im Herzen, der ihn im Grunde von den Autokraten unterscheiden sollte.
Und womöglich sorgte auch dies dafür, dass er sich für das Leid in Servano verantwortlich fühlte.

"Wenn Eleven hungern und mich um Gaben bitten, wenn sie wie Bettler erscheinen, obwohl sie aus den gleichen Gründen wie alle Anderen hier sind, dann stimmt etwas nicht. Betten stehen frei, Häuser stehen leer, doch beklagen sich Leute darüber, kein Heim zu haben. Es hungern Bauern und Arbeiter, während wohlgenährte, nein sogar dicke und feiste selbsternannte Herren durch die Stadt laufen...", murmelte er leise in den Kaminschein hinein und seufzte.

Hier in Löwenstein konnte er nichts bewirken, ihm waren die Hände gebunden. Weder hatte er das nötige Geld, um die richtigen Leute um sich zu sammeln und sie auszustatten,
noch hatte er eine Möglichkeit Löwenstein zu entfliehen. Die Brücke über den Bergpass ist eingestürzt und die Grenzen sind alle versperrt.

Draven hob den Blick vom Kaminfeuer und sah an die Wand zu seiner Linken, an welcher eine große Karte hing. Gefangen in Servano.
Die Grenzen waren geschlossen, doch wo sollte er sonst hin?
Silendir war die Hochburg der Autokratie und die Gebiete um Servano waren zu nah am Einflussbereich von Löwenstein.

Hohenmarschen wäre der ideale Ort um etwas zu verändern. Es war überschaubar, die Leute litten großen Hunger und wussten auch, dass die Mithraskirche versucht den Glauben an die alten Götter zu verdrängen. Der sumpfige Untergrund sorgte auch dafür, dass Kavallerie und schwere Infanterie keine Chance hatten effektiv in Formationen das Land zu durchqueren.
Aber bis dahin würde er es gar nicht schaffen. Entweder würden Räuber, wilde Kreaturen oder die Hexenkeuche selbst ihn auf der weiten Reise holen.

Die einzige Zuflucht vor diesem Jammertal war eine kleine Hütte Nordöstlich von Löwenstein, welche verlassen in den verwinkelten Gebirgspässen (noch) der Witterung trotzen konnte. Sollte sich irgendein Mensch finden, der die Missstände ebenfalls sieht, oder sie erlebt und bekämpfen möchte, würde er ihn dorthin lotsen.
Doch wem sollte er schon großartig Vertrauen schenken?

Draven lief selbst jeden Tag mit einer Maske herum und verstellte sich, um nicht als schwarzes Schaf in der Herde aufzufallen. Er mied näheren Kontakt mit den Menschen und bevorzugte es, sie zu beobachten und aus ihnen zu lernen. Doch dadurch kannte er kaum jemanden.
Seine Mit-Eleven wollte er keinesfalls in seine jugendlichen Rebellenträume hineinziehen, wozu auch?
Die Meisten von ihnen gehörten selbst einer größeren Familie ein, oder arbeiteten für diese.
Er konnte es nicht riskieren so früh schon seinen Unmut über die ausbeuterischen Sozietäten kund zu tun, weshalb er lieber schwieg und seine Worte, getarnt in der Sprache des einfachen Volkes, anonym veröffentlichte.

Und so blieb ihm nichts weiter übrig, als jede Nacht neue Flugschriften zu verfassen und zu verwerfen, bis einige gut und sicher genug sind, um verbreitet zu werden. Zwar wollte er noch in dieser Nacht wieder schreiben, doch waren seine Finger geschwärzt von der Tinte und seine Augen taten schon weh. Die herrlichen Klauen der Schlaftrunkenheit griffen schon bald nach ihm und zogen ihn hinab in den Sessel, zogen ihn in einen tiefen süßen Schlaf, welcher seinem Körper und Geist die nötige Kraft zum Durchhalten geben sollte.
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Der Tropfen auf dem heißen Stein - von Draven Silberau - 07.05.2013, 03:56



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