FSK-18 Tagebuch eines Monsters
#6
VI.                 Episode – Mond
 
Vor meiner Wandlung hatte Mondlicht etwas Beruhigendes an sich. Wie oft vermochten das silbrige Licht und die kühle Nachtluft meinen Kopf zu klaren, sodass ich nach einem anständigen Suff wieder nach Hause fand. Nächte hatten etwas Magisches an sich und der Mondschein tauchte die Welt in eine andere, düstere Perspektive. Wer nun romantische Anwandlungen erwartet, wird enttäuscht. Ich habe mich nie wirklich für den Zusammenhang zwischen dem Fluch und dem Mondzyklus interessiert. Dafür war ich zu sehr damit beschäftigt, mit meiner Bürde zu leben. Es gibt Dinge, die einer Abfolge gehorchen, ähnlich beim Zyklus der Frau. Da kommt mir der Gedanke, was passiert wäre, wenn sich der Vollmond mit der Menstruation meiner Wölfin überschnitten hätte? Vermutlich wäre die gesamte Menschheit ihrer Raserei zum Opfer gefallen.

Der Mond verständigt sich mit uns. Es ist wie ein immerwährendes Summen, das zu einem Tinnitus wird, wenn der Mond voll wird. Das Fiepen quält meinen Kopf und beherrscht all meine Gedanken, bis ich mich der Verwandlung hingebe. In Vollmondnächten gibt es keine Wahl zwischen Wolf- oder Menschengestalt. Ein Werwolf muss seiner animalischen Seite nachgeben, wenn er nicht den Verstand verlieren will. Das Lied des Mondes zu unterdrücken ist ähnlich mühsam, wie der eigenen Blase zu befehlen sich nicht zu erleichtern, nachdem man mehrere Liter Bier getrunken hat. Es gilt einen sicheren, abgelegen Ort zu finden oder sich mit den nötigen Vorsichtsmaßnahmen wegzusperren und die Wandlung zuzulassen.

Viele meiner Kammeraden plagten über Gedächtnislücken nach den Nächten. Selbst ich – der meinem Wolf viele Freiheiten einräumt – finde mich gelegentlich nackt und blutig in einem Busch wieder, nachdem mir mein Wolf im Schlaf die Kontrolle rückübertragen hat. Was in der Nacht passierte ist unergründlich oder im besten Fall bleiben mir neblige Gedankenfetzen. Jedoch gelang es mir deutlich besser als meinen Kammeraden den Kopf zusammen zu halten und die menschlichen Gedanken selbst in meiner Wolfsform fließen zu lassen. Das war vermutlich einer der Gründe, warum sie mich als Anführer anerkannten, denn ich konnte ihnen in den ohnmächtigen Nächten Sicherheit geben. Die Angst die Kontrolle an den Wolf zu verlieren beherrschte uns in den Vollmondnächten noch mehr als sonst.

Bei Neumond sind wir so menschlich, wie es uns Verfluchten vergönnt ist. Unsere Fähigkeiten zu Heilen und unsere Kräfte sind eingeschränkt, dafür hält sich aber auch die Aggressivität und Jagdlust zurück. Die Mondfülle wirkt sich auch auf unsere Instinkte, Sinne und die Heilung aus. Umso näher die Vollmondnacht rückt, umso auffälliger werden wir. Unsere Stärken sind beim Vollmond am ausgeprägtesten, aber auch unsere animalische Seite.
Das Klischee um das Mondjaulen ist begründet. Im Rudel aber auch alleine jaulen wir dem Mond entgegen. Ob es etwas mit dem Mond an sich zu tun hat bezweifle ich jedoch. Er ist vielmehr unsere Gemeinsamkeit und Erkennungszeichen. Wir kommunizieren über den Brauch des Jaulens und wissen um unsere Kammeraden und Verbündete. Das gemeinsame Jaulen eines Rudels fühlt sich ähnlich an wie ein Zuprosten in einer befreundeten Gruppe. Es hat keine spezielle Bedeutung, aber man will darauf nicht verzichten.

Wenn der Mond hinter dem Horizont verschwindet und sich mit der Sonne abwechselt, wird das Brennen im Körper geringer und die menschliche Gestalt greifbar. Dennoch bleibt immer die Ungewissheit, wie sich die nächste Vollmondnacht auf einen auswirkt. Ich wurde schon dazu gezwungen mich einzuschließen und die Türe mit einem Zeitschloss zu versehen, da ich meinem eigenen Verstand nicht mehr trauen konnte. Aber die Option ist immerhin besser, als von einem erstaunten Wanderer oder Jäger geweckt zu werden, der einen blutverkrustet, zerzaust und nackt im Wald findet. Keine Versicherung würde ausreichen, um mir das Unwissen zu nehmen, er könnte meine Rückverwandlung beobachtet haben. In solchen Momenten bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Mörder zu werden, um selbst zu überleben. Denn bis ich überhaupt ‚Mond‘ sage, würde er mein Geheimnis schon bei der Kirche beichten, bebend vor Angst.

So nimmt uns der Mond manche Entscheidungen ab, zwingt uns aber auf der anderen Seite selbst in unserer menschlichen Gestalt zu Handlungen eines Monsters. Der volle, pralle Mond ist unser stärkster, verlässlichster Verbündeter und wird für den Rest meines Lebens mein enger Begleiter sein. Ob ich es will oder nicht.

[Bild: 5i7w8yea.png]
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