FSK-18 Tagebuch eines Monsters
#5
V.                 Episode - Fluch

Vor Jasanders Tod ließ er keine Möglichkeit aus, uns zu quälen. In meiner Kindheit wurde ich selbst Opfer eines grausamen Vaters und gewiss hat es mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Aber es ist keine Erziehungsmethode, die ich einem Vater raten würde. Unser Erzeuger vertrat ebenfalls die Einstellung, uns mit Grausamkeit und Schmerz zu formen und zu stärken. Seit unserer Erschaffung machte er aus allem ein Mysterium. Selbst die Informationen, die er uns in spärlichen Portionen gab, waren fragwürdig. Mit jedem Tag zeigte sich mehr, dass unser Erschaffer nicht mehr ganz gesund im Kopf war. Sein Irrsinn gipfelte an dem Tag, als er sich in eine fast außerirdische Monstrosität verwandelte und uns angriff. Nur als Rudel konnten wir ihn besiegen und zerfleischen. Von dem Tag an – und es war ein recht früher Tag unserer Existenz – waren wir auf uns alleine gestellt.
Die Geheimnisse um die Vielfältigkeit des Fluchs erschlossen sich erst über Monate, manche erst über Jahre hinweg. Unter gewissen Umständen können wir den Fluch an andere weitergeben. Nicht jedem ist es vergönnt den Fluch zu überleben und vom Wolf als Kammeraden anerkannt zu werden. Viele sterben an dem Ausbruch, der sich wie ein Fiebertraum entwickelt und das Immunsystem an seine Grenzen treibt. Wer es überlebt wird mit einer Unwissenheit beschenkt, die jeden Mondzyklus schlimmer wird.
Der Wolf gewinnt an Macht und man hat die Wahl ihn zu unterdrücken oder ihn gewähren zu lassen. Ein Unterdrücken führt früher oder später zu einem unberechenbaren Ausbruch. Ich spürte von meiner ersten Wandlung an, dass ich den Wolf nicht unterdrücken durfte. Er hat es mir nie wirklich gedankt, aber ist mir andererseits auch nicht in den Rücken gefallen. Wahrscheinlich ist meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit ein Grund dafür, dass ich noch lebe und nicht entdeckt, gejagt und vernichtet wurde.
Vom ersten Vollmond an bis zu diesem Tag erinnert er mich bei jedem Kleidungswechsel an seine penetrante Existenz. Nach meiner ersten Wandlung ist mir eine Rute gewachsen. Das ist kein Scherz. Eine echte, pelzige Rute, etwa dreißig Fingerbreiten lang, die schokoladenbraun und struppig an meinem Steißbein angewachsen ist. Sie ist ein ‚Makel‘, ein Zeichen des fortgeschrittenen Fluchs und mit der Zeit kamen weitere hinzu. Manche sind schwerer zu verbergen wie anderen – mein zweiter Schwanz macht Intimitäten zur Hölle – und nicht all meine Kammeraden erlitten in so jungen Wolfsjahren eine ähnliche Schmach.
Immerzu verlängerte Fingernägel, die spitz auslaufen lassen sich feilen. Verfälschte Haarfarben lassen sich färben, plötzliche Pelzbewüchse am Körper kann man rasieren. Nachdem mein erster Makel eine Rute ist, hatte ich keine großen Bedenken, was als nächstes passieren würde. Mit einer Wolfskralle am Knöchel hatte ich also nicht gerechnet. Damit ist auch die Barfußsaison für mich für alle Zeiten vorbei.
Die Makel sind ein Zeichen der Entwicklung und Stärke des Wolfes. Umso älter ein Werwolf, umso mehr setzt sich der Fluch durch. Es erscheint mir durchaus plausibel, dass ich eines Tages kaum mehr Mensch sein werde – wahrscheinlich eine der wenigen Wahrheiten, die uns unser Erzeuger mit auf den Weg gegeben hat – aber dagegen gibt es tatsächlich ein Mittel. Wer ein Allheilmittel erwartet hat, wird schwer enttäuscht. Ich trage immerhin einen Fluch in mir und die sind nie freundlich. Um aufzuhalten, dass der Wolf eines Tages die Kontrolle komplett an sich reißt, gilt es einen Teil des Fluchs abzugeben beziehungsweise zu verteilen. Es bedeutet, um nicht als unkontrolliertes Monster zu enden, muss ich andere beißen und den Fluch übertragen, kurzum andere Werwölfe erschaffen.
Eine solche Erkenntnis nagt an der Moral. Zu meinem Glück war ich nie ein besonders moralischer Mensch. Ich habe den Fluch an jemanden weitergegeben, unbewusst. Und dabei einen meiner größten Feinde zu einem unfreiwilligen Kammeraden gemacht. Genauso hat es Arellus getan und ich bezweifle, dass er je aufgehört hat sich selbst deswegen Vorwürfe zu machen. Doch wir sind die Einzigen, die vom ersten Wurf noch leben, also hatte in dieser Hinsicht unser Vater offensichtlich recht. Die Anderen sind verschollen oder vielleicht ihrem Wolf zum Opfer gefallen. Das wird sich vermutlich nie klären. Denn eines Tages war nur noch ich und der unverbesserliche Sauberwolf am Leben, der sich zwanghaft an seine Menschlichkeit klammert. Doch wohin hat es ihn getrieben? In den Wahnsinn, genauso wie unseren gemeinsamen Vater.

[Bild: y29kid96.png]
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 22.03.2020, 10:44
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 28.03.2020, 11:14
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 05.04.2020, 17:49
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 13.04.2020, 17:47
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 19.04.2020, 11:26
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 26.04.2020, 21:03
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 02.05.2020, 14:43
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 06.05.2020, 18:15
RE: Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 10.08.2020, 11:48



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste