FSK-18 Wer schön sein will, muss leiden
#4
Bogengasse. Altstadtweg. Schuldenturm und Hauptstrasse. 

Vertrauter noch als die Namen waren mit der Zeit die Wege selbst geworden: Die kleinen Abkürzungen, die oft nur jene kannten, die hier aufgewachsen waren. Die vermeintlichen Umwege, die Engpässe und Nadelöhre vermieden. Wenn man nur oft genug dem Verlauf der sorgsam aufgezeichneten Patrouillenpläne folgte, hörten die Namen auf abstrakt zu sein und die Entfernungen schrumpften zusammen. Ein guter Stadtwächter kannte sein Revier.

Nicht, dass Gerwulf sich im Augenblick "gut" gefühlt hätte. Die Benachrichtigung war von jener nüchtern Knappheit gewesen, die sich mit dem Abstand eines halben Jahres schmucklos in eine Akte einfügte: Datum, Uhrzeit. Genauer Ort. Anwesende Personen. Anwesende Stadtwächter. Objekte Schilderung der Umstände.

"Hilflos aufgefunden." stand da, gleich neben: "Nicht ansprechbar."

In Verbindung mit dem Namen war das genug gewesen. Genug, um alles stehen und liegen zu lassen. Genug, um die unangebrachten Witzchen zu überhören.

Trotz aller nüchternen Korrektheit des Berichtes war die Hoffnung ein eilender Begleiter.

Schuldenturm. Hauptstasse. Haupttor.

Der Anblick des dunklen Schopfhaares, fast versteckt unter der der weiten Decke, brachte ein Ende aller Zweifel. 

"Alle hinaus."

Die kleine Wachstube, hier am Haupttor war ein Beispiel für bürokratische Besessenheit, die sich darin gefiel Listen zu erstellen und abzuhaken. Zwei Regale Typ III, ein Wandschränkchen Typ XII, ein Waffengestell, ein Klappbett, ein Stuhl, ein Schreibtisch Typ IV-2, vier Decken Gruppe B (Sommer), die nicht nur als Zudecke, sondern eben auch als Laken gebraucht wurden.

Und in der Ecke, fast begraben unter einer der schweren Wolldecken, die Frau.

"Rahel?"

Keine Reaktion, aller Hoffnung zum Trotz - wann immer der Blick der offenen Augen sich auf etwas fokussierte, schien es in unbestimmter Ferne zu sein.

"Wer auch immer dir das angetan hat - wird bezahlen. Ich schwöre es."

Was genau das war, hatte der Bericht nicht im Detail geschildert, aber Gerwulf hatte Augen im Kopf um die Platz- und Schürfwunden zu sehen und es brauchte nicht viel um sich einen erbitterten Kampf auszumalen, an dessen Ende aller Widerstand vergebens gewesen war. 

Es war nicht die erste Frau, die Gerwulf in ähnlichem Zustand zu Gesicht bekommen hatte. Es würde nicht die letzte sein.

"Ich bringe sie ins Heilerhaus. Ergänzt den Bericht, ich will dass er morgen früh als erstes auf dem Tisch des Hauptmannes liegt."

Es war bereits hell, als der Wachmann den Marktplatz schliesslich zurückliess und die Marktgasse passierend in die Bogengasse zurückkehrte. Und da war er, der kleine, übermächtige Impuls, der ihn dazu brachte nicht etwa das eigene Heim anzusteuern, sondern dass der Frau, die nun von kundigen Augen bewacht an einem sichereren Ort ruhte. 

Verschlossen.
Ein Moment der Enttäuschung, gefolgt von heisser Verlegenheit. 

Die Scham brauchte bis zum Kübel kalten Wassers um zu verfliegen.
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Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 06.06.2018, 18:43
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 20.06.2018, 15:15
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 21.06.2018, 09:39
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Gerwulf Leuenberg - 21.06.2018, 19:36
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 24.06.2018, 10:15



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