FSK-18 Wer schön sein will, muss leiden
#3
Doch erst einen Abend später kam sie dazu, ihre Salbe auszuprobieren. War es eine Vorahnung gewesen? Auf alle Fälle hatte sie eine unruhige Nacht hinter sich und sie konnte nicht einmal sagen, woran es genau lag. Ein Gefühl, als ob eine dunkle Gewitterwolke für einen Moment die Sonne an einem lauen Sommertag überschatten würde, ohne dass es wirklich zu einem Gewitter kommen würde.

Doch der Tag wischte all dies wieder weg und sie erinnerte sich kaum daran, als sie des Abend entspannt mit dem Fräulein Strastenberg auf dem Balkon saß und sich unterhielt. Die Röcke waren wunderbar geworden und sie freute sich schon darauf, einen davon auf dem Ball tragen zu können, falls es je einen solchen geben würde. Der Krieg, dieser verdammte Krieg! Wie lange noch?

Sie löste ihr Haar und stellte den Tiegel mit der Salbe auf den kleinen Hocker neben dem Bett. Die Tür zum Balkon hatte sie geöffnet, damit sie - falls die Salbe hielt, was sie versprach - davonfliegen könnte. Es wäre sicherlich nicht möglich, mit Flügeln eine Türklinke zu bedienen. Da sie um die Kraft wusste, die manchen Pflanzen innewohnte, vertraute sie auf die richtige Rezeptur, öffnete das Tiegelchen, tauchte einen Finger in die unappetitlich aussehende Salbe und strich sehr wenig davon auf die Aussenseite der Beine, den Bauch, die Arme, unter die Achseln und über Stirn und Wangen. Sorgfältig wurde der Tiegel wieder verschlossen und sie überlegte kurz, ob sie sich etwas überziehen sollte, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder, jeglicher Stoff würde nur hinderlich sein. Also ließ sie sich rückwärts aufs Bett sinken, schloß die Augen und wartete auf die Transformation.

Nach einer Weile begannen die Hautstellen, an denen sie die Salbe aufgetragen hatte, zu prickeln, dann ein leichtes Brennen. "Sicherlich beginnen dort nun die Federn zu wachsen", dachte sie noch, ehe ihr Geist von den starken Drogen davon getragen wurde.

Sie saß auf dem weichen Gras unter einer riesigen Buche, dessen weit herabhängenden Äste ein schützendes Dach bildeten. Die Sonne funkelte hier und da hindurch und als sie den Kopf nach oben wandte wurde das Licht stärker. Zunächst nur ein sanftes Kitzeln auf Stirn und Nase, dann schoben sich die Äste des Baumes auseinander und sie wurde von einem gewaltigen Lichtstrahl erfasst, der sie unweigerlich nach oben zog. Mithras selbst breitete seine Arme aus, um sie willkommen zu heißen! Als sie aufstand und sich ihm entgegen streckte, die Arme weit erhoben, fühlte sie sich leichter und leichter werden und schließlich stieß sie sich mit den Füßen ab und schwebte zu ihm empor, dem Licht entgegen. Sie schwebte einfach, keine Anstrengung, kein Flügel schlagen, höher und höher stieg sie auf, bis sie den Baum hinter sich gelassen hatte und einen Blick auf die umliegenden Bäume und bald auf den ganzen Wald werfen konnte.

Für einen Moment überkam sie Schwindel, als sie nach unten schaute, so hoch, so  gefährlich, sie konnte fallen! Doch dann überwand sie diesen Moment der Angst und schwebte einfach weiter. Glücksgefühle übermannten sie, Mithras war gnädig! Sie durfte Zeuge dieser gewaltigen Schöpfung sein. Wo war sie? Es war gar nicht so einfach, sich zu orientieren, von hier oben aus. Südwald vielleicht? Oder der  Flüsterwald? Unmöglich zu sagen. Keine Häuser, keine Höfe waren zu sehen, nur hin und wieder spiegelten sich kleinere Wasserflächen in der Sonne. Es war ein gemächlicher Flug, der nur langsam voran ging. Neugierig sog sie die neuen Eindrücke in sich auf. Wie wunderbar es war, die Welt einmal von oben zu sehen! Doch halt! Was war das? In weiterer Ferne sah sie etwas am Himmel, eine weitere Gestalt, die langsam auf sie zu kam. Je näher sie sich kamen, desto vertrauter wurden die Umrisse und Bewegungen.

"Vater? Bist du es?" Es war ihr Vater und je näher er kam, desto mehr strengte sie sich an, mit rudernden Armbewegungen, ihm noch schneller näher zu kommen. Sie wollte rufen, doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Und je mehr sie sich anstrengte, desto mehr verlor sie an Höhe und je verzweifelter sie versuchte, zu ihm zu gelangen, desto weiter trug es sie von ihm weg. "Das ist nicht richtig! Vater, bleib bei mir! Flieg nicht davon!" Ihre Füsse berührten die dunkle Erde, aber nur für einen Moment, ehe sie sich wieder abstieß und erneut empor stieg, schneller dieses Mal. Als sie die Baumwipfel überwunden hatte, schaute sie sich um. Der Himmel hatte sich verändert. Wo eben noch Mithras Sonne und das endlose Blau um die Wette strahlten, zogen sich nun dunkle Wolken zusammen, in der Ferne konnte sie Blitze sehen, die auf die Erde peitschten. Die Gestalt war verschwunden und das ganze Szenario hatte sie nun von vollkommener Glückseligkeit in etwas Bedrohliches gewandelt. Auch sie musste hier weg und zwar schnell.

Ein Sturm kam auf und trieb sie eine Weile vor sich her, ehe er sie gänzlich umfing, sie in einem gigantischen Wirbel umschloß. Wo war oben? Wo unten? Sie wirbelte so rasch umher, dass ihr schlecht wurde. Sie wollte die Augen schließen, doch das gelang ihr nicht. Sie wollte heraus hier, doch unbarmherzig war sie gefangen. Wenn sie nach unten schaute, konnte sie, wie durch einen Trichter, die Erde unter sich sehen. Bäume, Häuser sogar, die dort vollkommen reglos standen, als gäbe es diesen Sturm gar nicht. Schneller und immer schneller bewegte sich dieser Wirbel und trug sie mit sich, nur merkwürdigerweise stand sie selbst nun wieder still, als stünde sie inmitten dessen, ohne von den um sie herum wirbelnden Winden auch nur berührt zu werden. Kein Laut drang an ihr Ohr, was ihr aber erst nach einer Weile auffiel. Diese unnatürliche Stille, obwohl die Welt um sie herum aus tosendem Chaos bestand.

Dort unten war Löwenstein! Sie erkannte das große Tor, das Armenviertel zur rechten, die Neustadt zur linken. Die Bewegung wurde langsamer. Dort war die Bogengasse! Und dort sah sie eine vollkommen nackte, dunkelhaarige Frau auf dem Balkon stehen, die Arme weit in die Luft gereckt, die gerade das Bein hob, um auf die Balkonbalustrade zu steigen. "Nein, tu es nicht!" wollte sie ihr noch zurufen, doch wieder kam kein Laut aus ihrem Mund.

Als die Schwarzhaarige auf dem harten Pflaster aufschlug, umgab sie Schwärze. Immerhin hatte ihr Überlebensinstinkt sie davon abgehalten, kopfüber hinab zu springen, dennoch war der Aufprall schmerzhaft und sie blieb eine Weile benommen auf der Straße liegen. Doch selbst dieser Schmerz vermochte es nicht, ihre benebelten Sinne zurück zu bringen. Nach einer Weile rappelte sie sich wieder auf und zog humpelnd, verdreckt, an Knien, Händen und Armen blutend gen Stadttor.
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Nachrichten in diesem Thema
Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 06.06.2018, 18:43
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 20.06.2018, 15:15
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 21.06.2018, 09:39
RE: Wer schön sein will, muss leiden - von Rahel L. Goldblatt - 24.06.2018, 10:15



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