Wie stellt ihr euch "Low-Fantasy" vor?
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(07.07.2011, 00:13)Merkenau schrieb: Ich möchte dem Ganzen gar nicht so viel hinzufügen, viel wichtiges ist gesagt worden, doch 2 Punkte halte ich für besonders wichtig:

1. Gesellschaftsstruktur:

Low Fantasy heißt Realismus und Realismus heißt eine Kluft zwischen Arm und Reich, die sich in allmöglichem Alltäglichen widerspiegelt. Das fängt oberflächlich an, bei unterschiedlichen Stadt- oder Waffenrechten für Bürger oder Unfreie, geht weiter über die Art und Weise der Bildung, Kleidung oder des Auftretens und endet bei fundamentalen Sachen wie Essen, Ausdruck, Namen oder Weltanschauung.

2. Religion:

Low Fantasy heißt: ES GIBT KEINE ATHEISTEN! Ich lebe in einer mittelalterlichen Welt, meine Freunde und Familie werden von Räubern und Dämonen abgeschlachtet, ein Glaubenskrieg ist im Gange und verbindet Kontinente, die Kirche ist mächtiger als der Staat. Reiche müssen sich dem Glauben unterwerfen, weil es ihr Stand gebietet (siehe Punkt 1), Arme stellen nichts in Frage, was schon 1000 Jahre alt ist und 100 Meter hohe Kathedralen bauen kann! Und außerdem sind a) fantastische Wesen real und b) JEDER hat ANGST vorm Tod.
D.h. nicht dass jeder Mithras anbeten muss. Nein es gibt genug Mondwächter und auch andere finstere Mächte, an die man GLAUBEN kann, aber es ist für einen gut gespielten Charakter essentiell, dass er GLAUBT. Ob das nun an die dämonische Macht ist, die ihm ewiges Leben gegen seine Seele bringt oder ob das an den heiligen Hubert von Blauschluck ist, der Schutzpatron der Dorftrottel, macht kein Unterschied.

Aber man nenne mir eine plausible Erklärung für einen wirklich aufrichtig und komplett atheistischen Charakter. Es gibt keinen! Liebe Spieler, bitte denkt daran!

lg
Merkenau

Atheismus in den meisten Fantasy Settings ist ziemlich schwer erklärbar. Aber vermutlich meinst du auch etwas anderes, als Atheismus.

(Atheismus ist das Gedankenkonstrukt, das die Existenz des Göttlichen ablehnt. Für einen Atheisten ist klar: so etwas wie göttliche Wesen gibt es nicht. Das auf Amrahn zu behaupten ist dumm, weil es Götter nachweislich gibt.)

Low Fantasy heißt für mich, dass die Welt einigermaßen realistisch ist. Das bezieht sich auf einige Domänen der Zaubere, die nach meiner Ansicht gut erklärbar sein müssen - als Buchbeispiel fällt mir hier die Königsmörderchronik ein. Dort gibt es 2 Arten von Zauberei: Sympathie, die wissenschaftlich ziemlich durchdacht ist und nach einem schlüssig erklärbaren Konzept funktioniert und das "namen". Letzteres ist die Gabe über den wahren Namen eines Objekts oder eines Prinzips Macht zu erhalten, die wirklich "magisch" ist (und schlecht erklärbar ist).
Auch dadurch, dass bestimmte Fantasyklischees entzaubert werden (der gemeine Drakkus) wird einem klar, dass diese Welt garnicht so weit von der unseren entfernt ist. Das macht sie greifbarer, realistischer und senkt den "Fantasygehalt".

Ich finde außerdem, dass man es mit dem "alles im Dreck!" nicht übertreiben muss. Realistischer ist es, wenn es Leute in allen Schattierungen gibt. Natürlich gibt es Helden - die gibt es im realen Leben auch. Selbstlose Menschen, die das Wohl von Anderen über das Eigene stellen. Aber Heldentum ist mit Gefahren verbunden, die hier, wie auch in der Wirklichkeit, eine echte Bedrohung darstellen.
Das Böse muss zudem einer Motivation folgen. Es gibt Menschen, denen macht es Spass Macht über andere zu haben, Leute zu unterdrücken und dergleichen. Sicherlich. Ich würde es aber schön finden, wenn man wirklich einen Grund hätte böse zu handeln. Da sollte auch die "Hölle" keine Ausnahme machen. Dämonen und dergleichen sollten eher eine subtilere Art von Horror verbreiten - Netze aus Lügen, Intrigen, geheimnisse die unter geheimnissen verborgen sind. Sie könnten gleichzeitig lügen und die Wahrheit sprechen und so weiter - aber bitte nicht ständig die zerstörerische Seite der Hölle.

Letzteres bedingt, dass Spieler in der Lage sind zu verlieren. Sollte es vom Staff eingeführte Feindfraktionen geben die auf Amrahn agieren, dann sollte es denen auch möglich sein zu gewinnen. Und zwar dynamisch, in abhängigkeit davon was die Spieler so anstellen. Es könnte zum Beispiel Spione Indharims geben, die unerkannt unter den Leuten herumgehen und versuchen jemanden, den sie gekauft/bedroht/gedoppelt haben auf den Thron zu bringen.
Sollten die Spieler das rausfinden und verhindern können - okay (gleichzeitig ist es natürlich denkbar, dass die Spione einzelnen Spielern Geld, Macht oder andere Dinge anbieten). Wenn nicht, was durchaus eine realistische Option sein kann, dann müssen sie mit der Konsequenz und der veränderten Spielrealität leben und sie wieder ändern (oder daran scheitern Wink ).
Realismus wird außerdem durch gewisse "Shit happens" Momente für alle gefördert. Im Kontext der dynamischen Spielrealität bedeutet das, dass man mal versuchen könnte ohne narrative Zwänge auszukommen. Sprich: feindliche Armee rückt auf Schiffen an. Spieler tun irgendetwas geniales und vernichten die Hälfte der Flotte bevor sie ankommt. Der Rest der Invasion sollte sich dann dementsprechend verhalten - und die Spielrealität sollte dem Rechnung tragen. Es sind danach nicht mehr 10.000 wilde Barbaren sondern nur noch 5.000 oder so Wink Bitte aber keine "Stadt/Lehen/Bereich X muss eingenommen werden und es gibt nichts, was man dagegen machen kann". Spieler sind, gerade was Lösungswege betrifft, verflucht kreativ. Das ist einerseits ein Segen, da es zu einer schier unendlichen Anzahl an möglichen spannenden Szenarien führt, zum anderen ein Fluch, weil die Spielleitung nie so ganz genau weiß was die jetzt schon wieder anstellen werden. Aber ein guter GM lebt damit.

Irgendwo weiter oben habe ich noch was von Schattierungen geschrieben, das möchte ich, im Bezug auf die Kirche, noch einmal aufgreifen. Ich habe nicht das Bedürfnis eine rein unterdrückerische Kirche zu erleben. Dem Hintergrund nach, vor allem vor der objektiven Gewissheit über die Existenz des Göttlichen, ist die Kirche zwar hierarchisch, will aber "das Beste" (ihres) für die Menschen. So sollte es Priester geben die streng sind, die Gebote aufs strikteste auslegen aber auch solche, die mehr Mitgefühl besitzen und die glauben, dass Gnade in einigen Fällen vor Recht ergehen sollte.

Ich habe, wenn die Rufe nach einer rigiden, strikten und unterdrückerischen Macht "Kirche/Religion" laut wird immer ein etwas mulmiges Gefühl. Ich glaube, dass viele ihr Bild von der (damaligen/jetzigen) RL Institution Kirche irgendwie in einem Spiel manifestieren müssen. Dass dabei, genau wie bei "mittelalterlichen" Argumentationsführungen, Falsches und Wahres fließend ineinander übergehen ist vielen garnicht bewusst (oft gehörtes Beispiel: Galileo ist ein Beispiel für die Unterdrückung der Wissenschaft. Falsch - Galileo war einer der geachtetsten Wissenschaftler seiner Zeit, bis er es sich auf eine ziemlich dumme Art mit seinem Schutzherren (dem Papst höchstselbst) verscherzte. Das ist durchaus Galileos großem Ego zuzuschreiben ^^ Dass seine Zustimmung zum kopernikanischen Weltbild eher sein persönlicher Geschmack war, sei mal dahinter gestellt. Und dass einige seiner Begründungen für das kopernikanisch Weltbild haarsträubender Unsinn waren ebenso).
Gerade unter Rollenspielern scheint es gute Sitte zu sein der Kirche alles Böse zuzuschreiben und dabei zu vergessen, dass eine solche Institution in sich nicht schlecht ist. Sie wird aber durch Menschen zu einem Instrument des Schlechten gemacht (oder hat das Potential dazu). Das sollte man in der Gesichtsgebung der Religion bedenken - es sind Menschen die mit der Macht der Religion Schlechtes aber auch Gutes anstellen. Ich möchte ig einen mithrasgläubigen Charakter spielen - und ich will den Charakter spielen können, nicht nur weil ich Furcht vor meinem Gott empfinde. Meine Motivation zu glauben darf nicht so eindimensional sein, sonst verliere ich nach, hm, vermutlich 2-3 Monaten die Lust dran.

Das war jetzt vielleicht ein großer Rundumschlag über Gott und die Welt - aber für mich ist die Frage nach Low Fantasy nicht wirklich isoliert sondern hängt auch stark mit der Interaktion zwischen Spielwelt und Spielern zusammen.

Lg
Greeneye
Fairy tales do not tell children that dragons exist. Children already know that dragons exist. Fairy tales tell children that dragons can be killed.
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RE: Wie stellt ihr euch "Low-Fantasy" vor? - von Greeneye - 07.07.2011, 08:38



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